Pressemitteilung zur Ukraine: Vermitteln statt sanktionieren

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Minden, 5. März 2014

Mit großer Besorgnis beobachten wir die Entwicklungen in der Ukraine und die Art und Weise, wie derzeit von bestimmten Medien und PolitikerInnen ein Revival des Ost-West-Konflikts geschürt wird.
Wieder einmal wird die Welt in „gut“ und „böse“ geteilt, wobei als die „Guten“ die aufständischen UkrainerInnen ausgemacht werden, die für Demokratie und die Assoziierung an die Europäische Union auf die Straße gegangen sind. Und die „Bösen“ sind einmal wieder „die Russen“, die diesen Prozess mit Gewalt zu stoppen suchen und drohen, militärisch in der Ukraine zu intervenieren. Beides ist nicht falsch, und doch ist das Bild viel komplexer. In der Tat: Viele der Protestierenden in der Ukraine haben auf dem Maidan demonstriert, weil sie die
Korruption und Willkürherrschaft der Regierung Janukowitsch satt hatten. Sie sahen oder
sehen sich auch nur teilweise von den oppositionellen Parteien repräsentiert – ein starkes
Element des Protests der letzten Wochen war das Misstrauen gegen alle Parteien und
PolitikerInnen. Aber mit der wachsenden Militanz des Protests – oder besser: der Abdrängung
derjenigen, die auf gewaltlose Mittel gesetzt hatten, in die Rolle von UnterstützerInnen
schwerbewaffneter Milizen mit Lebensmitteln und Sanitätsdiensten - ging die Stärkung der
Rolle faschistischer, russenfeindlicher und antisemitischer Gruppen einher. Der gemeinsame
Nenner, Janukowitsch zu stürzen, wäre vermutlich inzwischen schon zerbrochen, wenn nicht
die Bedrohung durch Russland die Reihen anscheinend weiter zusammenschweißen würde.
Jetzt mobilisiert die Ukraine ihre Reservisten und Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko droht
Russland mit einem militärischen Eingreifen der NATO. Dass diese Drohung keine Basis in der
Realität hat, weiß sie wahrscheinlich auch, aber es spiegelt die aufgeheizte und gewaltbereite
Stimmung in der Ukraine gut wieder.

Auf der anderen Seite ist die russische Rhetorik genauso auf Konfrontation gerichtet, und
Russland lässt seinen Erklärungen, „seine BürgerInnen im Ausland schützen zu müssen“, auch
schon Taten folgen. Medienberichten zufolge wird die Zahl der Truppen in den russischen
Stützpunkten auf der Krim verstärkt. Spekulationen über einen möglichen Einmarsch
Russlands in die Ostukraine und eine Abspaltung der Krim machen in östlichen wie westlichen
Medien die Runde und basieren angeblich auf schon zuvor entwickelten Plänen. Die Erinnerung
an die Konflikte in Georgien werden wach, wo mit Hilfe russischer Truppen zwei
Minderheitengebiete, Südossetien und Abchasien, de facto von Georgien gegen dessen
militärischen Widerstand abgetrennt wurden.

Die jetzt von Seiten der USA verhängten Sanktionen gegen Russland tragen ebenso zu einer
Verschärfung der Lage bei, denn sie drücken eine eindeutige Positionierung der USA in dem
Konflikt aus – Russland wird die alleinige Schuld gegeben.

Das national- ethnische Gesicht des Konflikts

Die Ukraine ist ein multiethnischer Staat aus Menschen, die sich in Volkszählungen (zuletzt
2001) als UkrainerInnen (77,8%), RussInnen (17,3 %), KrimtartarInnen oder Angehörige
vieler anderer kleinen Nationalitäten und Ethnien bezeichneten. Russisch ist in weiten
Gebieten die allgemeine Verständigungssprache (Iaut Wikipedia für 77,7 % der Bevölkerung
die Muttersprache). Die Ukraine hat eine wechselvolle Geschichte schon seit vor der Gründung
der Sowjetunion hinter sich, bei der Teile des Landes zu Österreich-Ungarn, andere Teile (u.a.
die Krim) zu Russland gehörten. Und auch die Stalinzeit mit ihren Untaten ist in der
ukrainischen Erinnerung nicht verschwunden, sondern dient ukrainischen Nationalisten als
anti-russisches Argument. Bislang war es dem multiethnischen Land gelungen, die
Gegensätze zwischen seinem ukrainisch geprägten Westen und russisch geprägten Osten
zumindest oberflächlich auszugleichen. Doch der Aufstand gegen Janukowitsch hatte ein
deutlich anti-russisches Gesicht, und es gab lange Zeit neben den Anti-
Regierungskundgebungen auch pro-Regierungs-Kundgebungen. Dass die sich Russland
verbunden fühlende Bevölkerung in der Ukraine in Sorge geriet, als die neue Regierung in Kiew
als eine ihrer ersten Amtshandlungen ein Gesetz auf den Weg brachte, das Ukrainisch zur
einzigen Amtssprache machte, ist verständlich.

Konflikte dieser Art sind in vielen Ländern Osteuropas und dem Raum der ehemaligen
Sowjetunion anzutreffen. Schnell werden Konflikte, egal was ihre eigentlichen Ursachen sind,
in ethnisch-nationalen Kategorien erklärt und es wird entsprechend politisch mobilisiert. Wo
versucht wurde, mit Gewalt Fakten zu schaffen, hat dies gewöhnlich zu Flucht und
„ethnischen Säuberungen“ geführt. Ein Wechsel der Herrschaftsverhältnisse ist hier keine
Lösung, sondern allein die behutsame Schaffung von Regierungsformen, die
Minderheitenrechte stärken und ethnische Spannungen abbauen.

Das strategische  und ökonomische Gesicht des Konflikts

Das Schwarze Meer hat Anlieger, die der NATO angehören (Türkei), Anlieger, die gerne
Mitglieder würden (Georgien, jetzt vielleicht auch Ukraine), und Russland mit seinen
Militärbasen auf der Krim, die auch der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte ist.
Russlands Interesse an der Krim und daran, zu verhindern, dass Georgien oder Ukraine
Mitglieder der NATO oder der EU werden, ist aus seinem strategischen, in alter Blocklogik
verfangenen Denken zu verstehen. Dabei kann es sich auch noch auf alte Zusagen berufen,
die die NATO 1990 gegenüber UdSSR-Präsident Gorbatschow gemacht hatte, dass der
Einflussbereich der NATO nicht bis an die russischen Grenzen ausgeweitet würde. Der Ost-
West-Konflikt hat den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ überlebt, und
Russland agiert, besonders seit Putin an der Macht ist, trotz G8-Mitgliedschaft und
strategischer Allianz mit der NATO, i.d.R. als Gegner des Westens – von Kosovo bis Syrien
und jetzt in der Ukraine. Dass andererseits die EU in ihrem Umgang mit der Ukraine Fehler
gemacht hat, wird inzwischen auch von PolitikerInnen zugegeben – man hätte die russischen
Interessen mitdenken sollen, so Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen
Ausschusses, am 4.3. in SWR2.

Allerdings: Dass Russland Sorge um seine Marinebasis auf der Krim hat, ist aus realpolitischer
Sicht im Grunde nichts anderes, als wenn Kuba oder Costa Rica Anstalten machen würden, die
US-Militärbasen auf ihrem Territorium schließen zu wollen. Um nicht missverstanden zu
werden: Aus pazifistischer Sicht ist keine Militärbasis oder Militärpräsenz in Drittstaaten
wünschenswert, und diese Feststellung darf auch nicht als Rechtfertigung des russischen
Konfrontationskurses missverstanden werden. Aber manche derjenigen, die jetzt Russland
lauthals verurteilen, würden sich mit genauso lautem Geschrei auf die Seite der USA stellen,
wäre Kuba so verrückt, die umstrittene Präsenz der USA auf seinem Territorium in Frage zu
stellen.

Müssen wir es jetzt der Tatsache zuschreiben, dass sich hier die beiden Großmächte direkt
gegenüberstehen, wenn die USA nicht mit einer Militärintervention in die Ukraine drohen,
sondern lediglich Sanktionen verhängen? Zum Glück setzen einige europäische Regierungen
im Westen – erfreulicherweise gehört die deutsche dazu – weiter auf
Vermittlungsbemühungen und die Notwendigkeit, den Konflikt friedlich beizulegen.

Friedenslogik, angewendet auf die Ukraine

Im Sinne einer Friedenslogik anstelle einer Abschreckungs- oder Sicherheitslogik müssten alle
Anstrengungen auf Deeskalation gerichtet werden. Im Westen heißt es dazu, dass „die
meisten Vermittler“ in den vergangenen Wochen „verbraucht“ seien. Das trifft aber nur zu,
wenn man an Russland als Adressaten denkt. Gerade weil sie sich als „pro-westlich“ definiert,
hat der Westen durchaus noch Einflussmöglichkeiten auf die neue Führung in der Ukraine. Er
sollte diesen Einfluss nutzen, um darauf zu drängen, dass die ukrainische Regierung

  • die militärische Mobilisierung sofort beendet
  • das umstrittene Gesetz zur Sprache zurücknimmt und das alte Gesetz wieder in Kraft setzt
  • eine inklusive Übergangsregierung schafft, in der alle Regionen des Landes und allepolitischen Strömungen angemessen vertreten sind
  • die OSZE einlädt, sie bei der Schaffung oder, soweit nötig, Überarbeitung von Minoritätengesetzen zu unterstützen, die allen Volksgruppen in der Ukraine die gleichberechtigte Teilhabe am Gesamtstaat und – soweit gewünscht – Selbstbestimmung in den sie betreffenden Angelegenheiten garantiert
  • einen Prozess aktiv fördert, der die Zukunft der Halbinsel Krim betrifft und deutlich macht, dass sie mit einem erweiterten Sonderstatus der Krim (die Krim ist bereits autonome Provinz) gegebenenfalls einverstanden wäre

An Russland sind ähnliche Vorschläge und Forderungen zu richten:

  • Sofortige Beendigung aller militärischen Maßnahmen, die als Aggression gedeutet werden können
  • Fortsetzung der gerade aufgenommenen bilateralen Gespräche mit der neuen ukrainischen Führung
  • Kooperation mit internationalen Vermittlungsbemühungen. Die OSZE oder der Europarat bieten sich in erster Linie an, denn sie sind die Organisationen, in denen sowohl Russland wie die Ukraine Mitglieder sind.

Russland müsste davon überzeugt werden, dass es durch einen Militäreinsatz viel mehr zu
verlieren als zu gewinnen hat und dass auch dem „vorgeblichen Schutz der Russen in der
Ukraine“ durch ein solches Eingreifen ein Bärendienst geleistet würde. Die wahrscheinliche
Folge wäre nicht, dass ethnische RussInnen in der Ukraine sicherer sind (außer dort, wo die
russischen Truppen die Kontrolle übernehmen), sondern im Gegenteil, dass ein ethnischer
Konflikt geschürt würde, der sehr leicht einmal mehr zu Vertreibungen und Flucht führen
würde.

Eine weitere Chance zur Deeskalation könnte in der Entsendung einer zivilen
Beobachtungsmission liegen - nach dem Vorbild der Kosovo Verification Mission wohl am
besten von der OSZE entsandt. Dies sollte eine Mission mit größeren Zahlen, nicht nur die
derzeit diskutierte kleine Zahl von BeobachterInnen sein.

Es sind in den letzten Jahren zunehmende Spannungen zwischen dem Westen und Russland
zu beobachten. Nicht nur die Regierung Putin, sondern auch viele PolitikberaterInnen gerade
in den USA bedienen sich inzwischen wieder der Begriffe und der Denkweise des Kalten
Kriegs. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung, die es zu stoppen gilt, bevor ein echter
neuer Kalter Krieg beginnt, bei dem Schlimmeres scheinbar nur durch gegenseitige
militärische Abschreckung verhindert wird. Ein Konzept gemeinsamer Sicherheit anstelle der
gefährlichen Abschreckungslogik und der Mut, der anderen Seite Vertrauen
entgegenzubringen, haben geholfen, den Kalten Krieg vor fast 30 Jahren zu beenden. Auch
heute gilt: Sicherheit ist nichts, das durch Waffen erzielt werden kann. Sicherheit kann es nur
geben, wenn die Menschen den ersten Schritt aufeinander zu machen – und sei es gegen den
Willen ihrer Regierungen.

Christine Schweitzer, Geschäftsführerin im Bund für Soziale Verteidigung

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