„Aus unserem Schmerz lernen“: Die Auswirkungen von Atomtests auf den Marshallinseln
Dieser Artikel ist Teil unserer „Kurzanleitung zu Militarismus und Klimakrise“, die Sie hier vollständig finden: https://wri-irg.org/en/story/2024/new-resource-short-primer-militarism-and-climate-crisis
Es begann zu schneien in Rongelap. [...] Wir Kinder spielten im Pulverschnee, hatten Spaß, aber später waren alle krank.“
Als das US-Militär die stärkste jemals getestete Bombe über dem Bikini-Atoll auf den Marshall-Inseln zündete - eine Wasserstoffbombe mit dem Codenamen „Castle Bravo“ und der 1000-fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe - konnten Lijon Eknilang und die Bewohner des Rongelap-Atolls und der benachbarten Atolle nicht ahnen, welche Auswirkungen dies haben würde.
Die Explosion riss einen 76 Meter tiefen und zwei Kilometer breiten Krater in das Bikini-Atoll und schleuderte Millionen von Tonnen Korallenkalk und Sand in die Luft, die später als radioaktive Asche auf viele bewohnte Inseln „schneite“.
Die Bewohner von vier Atollen erlitten tödliche Strahlendosen. Trotz Verbrennungen, Haarausfall und Durchfall wurden sie erst nach zwei oder drei Tagen evakuiert, während andere Atolle völlig auf sich allein gestellt waren. Auf einem japanischen Fischerboot kam es zu einem Todesfall nach akuter Einstrahlung, und etwa tausend japanische Fischerboote mussten ihren kontaminierten Fang vernichten.
Wissenschaftler von ICAN (der Internationalen Kampagne zur atomaren Abrüstung) haben errechnet, dass die Tests auf den Marshallinseln der Explosion einer Bombe, der Sprenggröße Hiroshimas entsprechend, pro Tag über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren entsprechen.
Insgesamt wurden 315 Atombomben zu Testzwecken auf den Pazifikinseln gezündet. Die 67 US-Atomwaffenexplosionen auf den Marshallinseln zwischen 1946 und 1958 erfolgten alle oberirdisch und trugen erheblich zur weltweiten radioaktiven Verseuchung der Erdatmosphäre bei. Alarmierend hohe Strontiumwerte, die in Milch und Kinderzähnen nachgewiesen wurden, trugen dazu bei, dass die USA, die Sowjetunion und Großbritannien 1963 einen Vertrag über das Verbot von Kernwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser unterzeichneten. Dennoch wurden die Atomtests fortgesetzt; bis heute haben weltweit über 2000 Tests stattgefunden.
Auf den Marshallinseln führten die Versuche zu katastrophalen gesundheitlichen Auswirkungen, insbesondere zu verschiedenen Krebsarten und Missbildungen bei Kindern, von denen die als „jellyfish babies“ bezeichnete Malfomration für die bis zur Geburt austragenden Mütter, die schlimmsten waren. Wie Lijon Eknilang berichtete: "Diese Babys werden ohne Knochen und mit durchsichtiger Haut geboren. Wir können ihre Gehirne und ihre Herzen schlagen sehen. Sie haben keine Beine, keine Arme, gar nichts."
Das amerikanische Energieministerium (DOE) behandelte die Bewohner des Rongelap-Atolls besonders zynisch und unmenschlich. Inzwischen öffentlich gewordene Dokumente belegen, dass die Inselbewohner Opfer geplanter Menschenversuche waren. Bei der Detonation der „Bravo“-Bombe wurde die starke Verstrahlung der bewohnten Atolle bewusst in Kauf genommen und ihre Evakuierung viel zu spät eingeleitet. Zwei Jahre nach der Evakuierung schrieb Merril Eisenbud, der Beauftragte für Atomenergie in den USA, über Rongelap: „Diese Insel ist bei weitem der am stärksten kontaminierte Ort der Erde, und es wird sehr interessant sein, ein Maß für die menschliche Aufnahme zu erhalten, wenn Menschen in einer kontaminierten Umgebung leben.“
Im folgenden Jahr wurde das Volk von Rongelap erneut angesiedelt. Zunächst waren die Menschen sehr froh zurückzukehren, denn das Stück Land einer Familie wird zusammen mit den Geistern der Vorfahren wie ein Familienmitglied betrachtet. Aber: „Von dem, was wir gegessen haben, bekamen wir Blasen an den Lippen und im Mund, und wir litten unter schrecklichen Magenproblemen und Übelkeit.“
Immer mehr Kinder mit Fehlbildungen wurden geboren, und „viele Menschen litten an Schilddrüsentumoren, Fehlgeburten, Augenproblemen, Leber- und Magenkrebs sowie Leukämie“.
Regelmäßig wurden Bewohner zu medizinischen Untersuchungen in die USA geschickt, es wurden Proben von Blut, Knochenmark und inneren Organen entnommen, aber abgesehen von Schilddrüsenoperationen wurden sie kaum behandelt. Lijon Eknilang „hatte sieben Fehlgeburten, Schilddrüsenoperationen, Knoten in der Brust, Nieren- und Magenprobleme, ihr Augenlicht war verschwommen“. Sie starb im Jahr 2012.
„Für die Zukunft unserer Kinder" wollten die Rongelap-Bewohner schließlich ihr Heimatatoll verlassen, doch ihre Anfragen bei den US-Behörden blieben unbeantwortet. Sie ahnten nicht, dass sie zu „wertvollen“ Versuchskaninchen für das DOE geworden waren. Erst 1985 wurden sie von dem Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior auf eine andere Insel umgesiedelt.
Die nächste Generation
Den nachfolgenden Generationen, in denen viele junge Menschen ebenfalls an Krebs erkranken, fällt es leichter, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Auch wenn das Sprechen über Krankheit oft noch unüblich ist, vor allem wenn sie Frauen betreffen. Jahrhundertelang hieß es, die Geburt missgebildeter Kinder sei eine Strafe für die Untreue der Frauen. Jahrzehntelang fehlte das Wissen über Atomtests und deren Folgen.
„Niemand hat mir etwas erzählt“, klagt Meitaka Kendall-Lekka, Dozentin am College of the Marshall Islands in Majuro, über ihre Kindheit und Schulzeit, als der Lehrplan an den der USA angelehnt war. Das Thema Atomkraft wird darauf erst ab 2021 thematisiert.
Die Republik der Marshall-Inseln ist seit 1986 formell unabhängig; davor wurden die Inseln als UN-Treuhandgebiet an die USA mit der Absicht übergeben, „dass die Treuhandgebiete im besten Interesse ihrer Bewohner und des internationalen Friedens und der Sicherheit verwaltet werden“.
Meitaka Kendall-Lekka stammt aus dem Likiep-Atoll, wo Kinder nach der Bravo-Explosion ebenfalls mit dem radioaktiven Aschefallout gespielt hatten, das aber nie evakuiert worden war. Als sie nach einem Jahrzehnt des Verschweigens über ihren Unterleibskrebs sprach, erhielt sie viele Meldungen von anderen jungen Mitgliedern der dritten Generation von Atomtest-Überlebenden über ihre eigenen, zuvor verheimlichten Krebserkrankungen.
„Die neue Generation ist bewusster, sie will etwas dagegen tun“, freut sich Meitaka Kendall-Lekka heute. Junge Marshallesen treten auf internationalen Konferenzen auf und berichten über ihre Heimatinseln (die im Durchschnitt nur zwei Meter über dem Meeresspiegel liegen). Auf einigen Inseln ist der Fischfang verboten und Kokosnüsse dürfen nicht gegessen werden, so dass die Menschen auf importierte Lebensmittel von schlechter Qualität angewiesen sind.
Sie berichten auch über den sogenannten Runit Dome. Der Runit Dome (im Volksmund auch „The Tomb“ (deutsch: das Grabmal) genannt) ist eine 115 m breite Betonstruktur, die auf einer Insel im bewohnten (!) Enewetak-Atoll errichtet wurde. Hier wurde eine gigantische nukleare Hinterlassenschaft aus Plutoniumfragmenten eines fehlgeschlagenen Atomtests und über 100 000 Kubikmeter radioaktiv verseuchter Schutt und Atommüll aus Nevada deponiert. Die Abfälle warten nur darauf, vom klimawandelbedingten steigenden Meeresspiegel in einem löchrigen Bombenkrater weggespült zu werden.
Die Hoffnung auf eine ausreichende Entschädigung durch die USA und eine Entschuldigung für das, was den Menschen angetan wurde, ist wohl vergebens. Aber die dritte Generation der Atomtest-Überlebenden hofft nun, dass möglichst viele Länder den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen.
Als Lijon Eknilang im Jahr 2004 Deutschland besuchte, sagte sie uns, wir sollten „aus unserem Schmerz lernen“: Wir müssen alles uns Mögliche tun, um Atomwaffen aus der Welt zu schaffen.
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