Ungehorsam: Eine Staatsfrage

Artikel im „Zerbrochenen Gewehr“ Nr. 30, Dez. 1994

MOC Zaragoza

Der Akt des Ungehorsams, als Akt der Freiheit, ist der Anfang der Vernunft“ (Ernst Fromm). 1971 war Pepe Peúnza der erste spanische Kriegsdienstverweigerer; jetzt besucht er die Gefängnisse, um den gefangenen Kriegsgegnern, die sich geweigert haben, den Zivildienst zu leisten, den er damals forderte, seine Unterstützung zu demonstrieren. Tomas Sancho vom Movimiento de Objeción de Conciencia (MOC) Zaragoza und Redakteur von “Mambru”, der Zeitschrift des MOC, erklärt, wie die Strategie der Verweigerung sich entwickelt hat.

Der Begriff „insumisión“ ist die Negation eines anderen: „sumisión“ = „Unterwerfung“, auch „Unterwürfigkeit, Ergebenheit“. Die Vorsilbe „in“ vor „sumisión“ (aus dem lateinischen „submissus“) bedeutet im Spanischen: Ungehorsam, Mangel an Unterwerfung, oder, positiv ausgedrückt, indem wir Ernst Fromm paraphrasieren, könnten wir sagen, dass die Nicht-Unterwerfung ein Akt der Freiheit ist.

Die spanische Bevölkerung assoziiert heutzutage das Wort „insumisión“ mit Antimilitarismus, „insumiso“ sein bedeutet antimilitaristisch sein. Diese eingeschränkte Bedeutung des Begriffs existierte vor einigen Jahren noch nicht, als die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung die Kampagne für zivilen Ungehorsam anstieß, die gegenwärtig unter dem Namen „insumisión“ ein Alptraum für die spanische Regierung ist.

Die antimilitaristische Bewegung begann 1971, als die Verhaftung von Pepe Beúnza erfolgte, eines antimilitaristischen und christlichen Verweigerers, der sich geweigert hatte, den Militärdienst abzuleisten, der verpflichtend war für alle jungen Männer. Seine Verhaftung war vorausgesehen worden. In Eile entwickelte sich eine internationale Solidaritätskampagne von großem Ausmaß. In diesen Jahren verlangte man einen alternativen Zivildienst zum Militärdienst, der von den Verweigerern selbst betrieben werden sollte.

1977 wird mit der Ankunft der gegenwärtigen Formaldemokratie eine Amnestie für alle politischen Gefangenen verkündigt, eingeschlossen die Verweigerer.

Damals entstand innerhalb des MOC eine Debatte, nachdem man die Entwicklung anderer Gruppen von Verweigerern in Westeuropa beobachtet hatte – speziell den deutschen Fall. Die Schlussfolgerung, zu der man gelangte, war: Wenn man einen alternativen Zivildienst zum Militär akzeptierte, bedeutete das, in indirekter Weise die Existenz der militärischen Rekrutierung zu rechtfertigen. Ohne letztere gäbe es ersteren nicht. In Deutschland erlitt die Armee - und im weiteren Sinne der Militarismus - mit einem Alternativdienst seit dem Ende des Krieges und trotz eines bedeutenden Prozentsatzes von Verweigerern im Vergleich zum Militärkontingent kaum einen Schwund in bezug auf ihre soziale Legitimität.

Der MOC setzte darauf, durch Ungehorsam den legalen Rahmen zu überschreiten, den der spanische Staat geschaffen hatte, um die von den Kriegsdienstverweigerern repräsentierte Dissidenz zu integrieren.

Der vom MOC geförderte zivile Ungehorsam nimmt im Laufe der 80-er Jahre verschiedene Formen an, wobei eine immer direktere Auseinandersetzung mit den Militärinstitutionen entsteht. Am 20. Februar 1989 fordert eine kleine Gruppe von Verweigerern, beladen mit Argumenten und mit Mut, nach einer langen Vorbereitung die Armee heraus, indem sie sich weigern, Soldat zu werden, aber gleichzeitig sich auch weigern, einen Zivildienst abzuleisten, der indirekt den Militärdienst bestätigt. Die „insumisión“ ist geboren. Seit diesem Tage bis heute, Ende 1994 haben sich mehr als zehntausend junge Männer dem Militarismus gegenüber als nicht-unterworfen erklärt.

Der Staat, unfähig, seine eigenen Gesetze anzuwenden – sie sehen Strafen von 2 – 6 Jahren Gefängnis vor – hat auf die selektive Repression gesetzt (weniger als 400 Verweigerer sind bis jetzt ins Gefängnis gekommen).

In den letzten Jahren hat die Regierung mehrere Male den gesetzlichen Rahmen geändert, der die Repression der Verweigerer betrifft. Seit 1991 durften die Militärtribunale sie nicht mehr verurteilen, also erlitt die Armee einen klaren Prestigeverlust. Die Zivilrichter nahmen ihre Rolle als Henker der Verweigerer übel auf, was die progressivsten Richter veranlasst hat, das Strafrecht nicht mehr anzuwenden (einige haben die Verweigerer freigesprochen, andere haben symbolische Strafen ausgesprochen, weit entfernt von den 2 – 6 Jahren, die vom Gesetz vorgesehen sind).

Die Repression hat trotz ihres selektiven und minimalistischen Charakters für die Regierung einen starken politischen Verschleiß bedeutet. Aus diesem Grunde entschied die PSOE (die sozialistische Partei Spaniens) 1993, die Gefängnisstrafen der Verweigerer zu „versüßen“.

Das spanische Gefängnissystem kennt drei Unterscheidungen von Gefangenen: den ersten Grad (die Gefangenen können mit den übrigen nur eine Stunde am Tage in Kontakt treten, den Rest der Zeit verbringen sie in einer „Isolationszelle“), den zweiten Grad (sie leben mit den übrigen Gefangenen innerhalb des Gefängnisses) und den dritten Grad („Freigänger“: tagsüber verlassen sie das Gefängnis zum Arbeiten oder Studieren, abends müssen sie zum Schlafen im Gefängnis sein, ausgenommen die Wochenenden). Die Verweigerer waren anfangs im zweiten Grad, aber 1993 wurde ihr automatischer Übergang in den dritten Grad beschlossen.

Dieses „Geschenk“ von seiten der Regierung wurde vom MOC als „vergifteter Apfel“ gesehen, durch den seine antimilitaristische Kritik neutralisiert werden sollte, denn die Zivilgesellschaft sieht nicht mit derselben Klarheit die Repression, die der dritte Grad bedeutet, und es dient gleichzeitig der Regierung dazu, die jungen Männer einzuschüchtern – die Repression verschwindet nicht, sie schwächt sich nur ab.

In diesem neuen Kontext bestand die politische Antwort des MOC darin, den zivilen Ungehorsam zuzuspitzen und ihn auf den dritten Grad auszudehnen. Am 12. und 13. Dezember 1993 kehrt eine Gruppe von Verweigerern, die als „Freigänger“ zu Gefängnis verurteilt waren, nicht zum Schlafen in ihre Zellen zurück. Die Verweigerer hielten sich an öffentlichen Orten auf (Universität, Pfarreien, Gewerkschaften, Nachbarschaftsgruppen...) und schickten dem Staat eine Herausforderung: Entweder ernsthafte Repression (zweiter Grad) unter Inkaufnahme der politischen Kosten, oder politische Lösung (Abschaffung der Wehrpflicht, Reduzierung der Militärausgaben...).

Innerhalb von zwei Wochen verhaftete die Polizei die Verweigerer, aber inzwischen hatte uns die Presse ihre Leitartikel gewidmet, man lud uns zu Radioprogrammen ein, und wir erschienen auf den Bildschirmen des Fernsehens (trotz der Zensur).

Parallel dazu nahm erdrutschartig die Anzahl junger Männer zu, die die vom Gesetz vorgesehene Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer wünschten. Es existiert eine direkte Beziehung zwischen dem Beginn der Verweigerungskampagne von 1989 und der Zunahme der Zahlen von KDV. Für 1993 nimmt man eine Zahl von 30 % der von der Armee Erfassten an. 1994 überstieg sie mit Sicherheit die Zahl der Soldaten. Die Verweigerungskampagne hat erlaubt, für die Möglichkeit der Verweigerung Reklame zu machen.

Das gegenwärtige Militärsystem in Spanien, das auf massiver Rekrutierung beruht, lässt sich nicht mehr halten, und die Regierung ist sich dessen bewusst. Je mehr wir den Prozess des militärischen Strukturwandels von der Verweigerung her beschleunigen, umso mehr Dysfunktionen zeigt das neue Militärmodell, das in überstürzter Weise aufgebaut wird.

Die antimilitaristische Bewegung kann sich diese Dysfunktionen zunutze machen, um weiter fortzuschreiten. Nach mehr als 20 Jahren harter Arbeit hat der Antimilitarismus in Spanien es geschafft, sich in den Vordergrund der sozialen Debatte zu spielen. 1994 haben weitere Ungehorsame sich geweigert, den „dritten Grad“ zu akzeptieren, gegenwärtig bevölkern etwa 200 von ihnen die Gefängnisse eines Staates, der – in der Theorie – die Freiheit der Weltanschauung hochhält. Ein guter Teil der spanischen Gesellschaft ist skandalisiert, da man die Ungehorsamen als Gewissensgefangene betrachtet.

Der zivile Ungehorsam gegenüber dem „dritten Grad“ ist das letzte Kapitel einer Geschichte, die sehr anders anfing, als Pepe Beúnza 1971 einen Zivildienst forderte. Jetzt besucht Beúnza die Gefängnisse mit den gefangenen Verweigerern, die sich geweigert haben, den Zivildienst zu leisten, den Pepe Beúnza gefordert hatte.

1971 war Pepes Forderung nützlich – sie erlaubte es, antimilitaristische Kritik zu üben. Heute hat das pseudodemokratische System sie aufgesogen, daher war es notwendig, die Kriegsdienstverweigerung neu zu erfinden, über die Nicht-Unterwerfung und danach durch die Weigererung, sich dem „dritten Grad“ zu unterwerfen. In der Zukunft werden wir weiterhin den zivilen Ungehorsam erneuern müssen – und wir debattieren das schon – auf der Grundlage der direkten Demokratie.

In einer Welt, die von der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, dem Verfall der Umwelt und der strukturellen Gewalt beherrscht wird, sind wir verpflichtet, gegen den Strom zu schwimmen.

Veröffentlicht in El fusil roto, Octubre 2014, No. 100

 

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