Organisationskollektiv: Ein Organisationsmodell für direkte Aktionen

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Viv Sharples

Während der Monate vor den Demonstrationen traf ein Organisationskollektiv, bestehend aus Sprechern (nach dem Rotationsprinzip) als Vertreter jeder Arbeitsgruppe, Konsens-Entscheidungen hinsichtlich Struktur, Budget und Logistik der Veranstaltungen und stellte sicher, daß die Arbeitsgruppen effektiv zusammenarbeiteten und dadurch keine Arbeit doppelt gemacht wurde. Die Treffen waren öffentlich, aber die Entscheidungsfindung oblag ausschließlich den Sprechern der Arbeitsgruppe. Zu Beginn jedes Treffens wurde den Leuten, die mit dem Konsensprinzip nicht vertraut waren, der Entscheidungsfindungsprozeß erläutert. Bei der A16-Aktion wurden am nächsten Tag Protokolle von allgemeinen und Arbeitsgruppentreffen an eine Liste verschickt, und die Web-Seite wurde fortlaufend auf den neuesten Stand gebracht. (Diesbezüglich war diese Aktion viel besser organisiert und viel effizienter als die Vorbereitungen für N30.)

Zusammenführung

Mehr als eine Woche vor den Aktionen fand ein Festival zur Zusammenführung, zur Intensivierung der Fähigkeiten und des Widerstands statt: 8 bis 10 Tage Training, Workshops, Bildungsforen, Requisitenherstellung, SprecherInnenräte und Landaktionen bis hin zu den direkten Massenaktionen.

Farbenfroh, chaotisch und voller Menschen - so spielte die Zusammenführung eine wichtige Rolle. Sie ermöglichte den Leuten aus nah und fern, zusammenzukommen und in Verbindung zu treten, sich einzutragen, zu erfahren, was abgeht und wie man einsteigen kann, Unterkunft zu finden, Bezugsgruppen zu bilden, die Koordination der Aktion mitzugestalten, die Aktionen vorzubereiten, sich neue Fähigkeiten anzueignen und sie einzusetzen, zusammen zu essen und wunderschöne Flaggen, Banner, riesige Marionetten und andere Requisiten herzustellen.

Wir haben daraus gelernt, daß wir viele große Plätze benötigen, um riesige Treffen abzuhalten, und zahlreiche große Trainingsdurchgänge, und daß wir nicht alle Requisiten, Medizin, usw. an einem Ort lagern sollten, da uns das viel empfindlicher gegenüber Polizeirazzien und Absperrungen macht, wie in DC am Tag der großen A16-Aktionen.

Bezugsgruppen

Direkte Aktionen basierten auf selbständigen, autonomen Bezugsgruppen (AGs): kleine Gruppen von 3-20 Leuten, die an den Aktionen teilnahmen und sich gegenseitig unterstützten. Bezugsgruppen werden oft mit FreundInnen, KollegInnen oder anderen Personen gegründet, die eine gleiche Identität oder gleiche Interessen haben. Diese kleinen Gruppen geben emotionale Unterstützung, Flexibilität hinsichtlich der Reaktion auf sich während der Aktion ändernde Bedingungen, schaffen einen Raum, in dem jede/r gehört und mit einbezogen wird, erschweren das Infiltrieren und ermöglichen die Selbständigkeit der Gruppe hinsichtlich der benötigten Logistik und Unterstützung während und nach den Aktionen.

Innerhalb der Bezugsgruppen gab es normalerweise Leute, die bereit waren, sich verhaften zu lassen, KoordinatorInnen für die Unterstützung, RechtsbeobachterInnen, MedizinerInnen/Erste-Hilfe-Personal, KoordinatorInnen der Treffen und SprecherInnen für die "SprecherInnenrats-Treffen". Einige Bezugsgruppen hatten sogar eine Verbindungsperson zur Polizei, VideographInnen/FotographInnen, PressesprecherInnen, Planungsteam und KommunikatorInnen mit Handy.

Jede Bezugsgruppe bevollmächtigte eine Sprecherin/einen Sprecher, die/der sie bei den SprecherInnenrats-Treffen vertrat. Viele Bezugsgruppen schlossen sich auch mit anderen Gruppen aus der gleichen Region/Organisation/ideologischen Richtung zu Einheiten zusammen, die ihre Handlungen koordinierten und gemeinsam an den Massenaktionen teilnahmen.

Sowohl in Seattle als auch in Washington DC wurde das Gebiet um die Treffpunkte in Kuchenstücke aufgeteilt und die Einheiten der Bezugsgruppen übernahmen die Verantwortung für die Blockade eines bestimmten Stücks dieses Kuchens - jeweils auf die von ihnen gewählte Art, sei es, daß sie sich aneinander oder an Objekte banden, daß sie sich hinsetzten und einhakten, daß sie ein Straßenfest veranstalteten, Barrikaden bildeten, etc.

Einschluß und Empowerment

Im großen und ganzen funktionierte dieses Modell bis jetzt. Es ist ein Versuch, mehreren Tausend Leuten aus verschiedenen geographischen Teilen, Hintergründen und Philosophien zusammen gewaltfreie direkte Aktionen durchzuführen, und zwar auf eine Art, die stark macht, Unterschiede in Philosophie und Taktik respektiert und die nicht hierarchisch ist.

Die Autonomie der Bezugsgruppen ist der Schlüssel dazu, daß das Modell umfassend eingesetzt werden kann. Innerhalb der Richtlinien der Aktionen trafen die Interessengruppen ihre eigenen Entscheidungen darüber, welche Risiken sie eingehen wollten; wie sie auf Polizeigewalt reagieren wollten; welche Taktiken sie während Blockaden anwenden wollten; welche Lieder sie singen wollten; ob sie mobil oder stationär sein wollten; ruhig oder leidenschaftlich; stehend oder sitzend; Technik einsetzen wollten oder nur ihre Körper; und welche Hauptbotschaft sie verbreiten wollten. So konnte eine große Bandbreite von Leuten kraftvoll zusammen agieren und eine Botschaft vermitteln, die nichtsdestotrotz multiple und komplexe Wahrheiten enthielt. Wir erzielten auch die maximale Flexibilität mit einer minimalen Hierarchie von oben nach unten: wie Starhawk über die WTO-Proteste schreibt "Keine zentralen Führer hätten die Szene inmitten des Chaos koordinieren können, und es waren auch keine nötig - unsere organischen, autonomen Orgnisationen erwiesen sich als viel kraftvoller und effektiver. Keine autoritäre Figur hätte mehr Leute dazu bringen können, eine Blockade unter Tränengas aufrechtzuerhalten - aber starke Leute, die ihre eigenen Entscheidungen treffen konnten, trafen diese Wahl."

Während ein paar Leute der Meinung waren, die Richtlinien der Aktion würden ihnen aufgezwungen, begrüßten andere sie als Möglichkeit für viele, an der Aktion teilzunehmen und sich sicher zu fühlen, ohne sich irgendeiner bestimmten Philosophie oder Definition von Gewaltfreiheit verschreiben zu müssen. Zerstörung von Eigentum ist ganz sicher ein sehr explosives Thema, mit vielen unterschiedlichen Meinungen, aber die A16-Aktion zeigte, daß es möglich war, solide und in gegenseitigem Respekt zusammenzuarbeiten. Dieses Thema wird ohne Zweifel weiter diskutiert werden und ist noch nicht vollständig gelöst, aber ein paar positive Schritte hin zu einer Lösung wurden schon getan.

Entscheidungsfindung

Das Modell ist natürlich nicht perfekt. Es ist schwierig, die Entwicklung einer informellen Hierarchie zu vermeiden, besonders wenn manche Leute sechs Monate lang an der Planung einer Aktion gearbeitet haben, eine Unmenge an Informationen haben und Schlüsselrollen spielen, während andere erst einen Tag vor der Aktion dazukommen.

Für eine Sprecherin/einen Sprecher einer Interessengruppe ist es schwierig, ihre/seine Gruppe gut zu vertreten, wenn sie - wie das oft der Fall war - keine Gelegenheit hatten, die Themen vorab zu diskutieren. Meistens waren unsere AG-Sprecher sowieso nicht erreichbar - wegen der riesigen Anzahl von Teilnehmern an den Sprecher-Treffen. So viele Ideen wurden nicht vorgebracht, und die Entscheidungsfindung war weit davon entfernt, allumfassend zu sein. Wenn wir wachsen wollen und noch mehr Leute unseren Aktionen beitreten sollen, müssen wir uns wieder anpassen, da die Treffen bereits mit 800-1000 anwesenden Personen kaum zu handhaben waren.

Während der Aktionen gab die Abhängigkeit von Kommunikatoren, die Radios und Handies hatten und Informationen von anderen Orten bekamen, ein Gefühl der Schwäche. Ebenso einige der Entscheidungen, die über Lautsprecher verkündet wurden ohne offensichtlichen Entscheidungsfindungsprozeß durch die Gruppe, obgleich ein solcher manchmal durchlaufen wurde, nur nicht klar erkennbar für alle Anwesenden (und deshalb nicht offen).

ErweiterungDie Tatsache, daß relativ wenige farbige Menschen an den Aktionen teilnahmen, zeigt auch deutlich, daß sie nicht wirklich allumfassen waren. In einem scharfen Artikel in ColorLines schrieb Elizabeth Martinez nach den WTO-Aktionen, daß nur 5 % der Teilnehmer Farbige waren - fehlende Gelder; Nichtvertrautsein mit den Themen und wie diese den alltäglichen Kampf der farbigen Menschen in den Vereinigten Staaten betreffen; zu wenig Zugang zum Internet; Abneigung gegen die meist von jungen weißen Anarchisten dominierte Subkultur am Zusammenführungsort; und Vermutungen (akkurat), daß die Organisatoren vor allem Weiße/Angloamerikaner waren, wurden als Faktoren angegeben, die die Teilnahme farbiger Aktivisten verhinderten.

Einige dieser Probleme wurden bei der Organisation der A16-Aktionen angegangen, bis hin zu Bemühungen, diese Leute zu erreichen und Verbindungen mit ihnen aufzubauen, und Aufklärung über den Einfluß der Strukturanpassungspolitik auf die Armen in den Vereinigten Staaten. Aber da ist ganz sicher noch viel Arbeit erforderlich, die noch lange dauern wird.

A16: Rollen in der direken Aktion

Die folgenden Gruppen von Leuten werden eng zusammenarbeiten, um den reibungslosen Ablauf der Aktionen und Demonstrationen zu fördern.

Verkehr: Während der Demonstrationen werden Verkehrspersonen Autos von den Demonstrationen fernhalten, den Fluß der Demonstrationen unterstützen, die Route bekanntgeben, und notwendige Informationen weitergeben, z.B. Änderungen der Demonstrationsroute.

Taktische Teams: Zwei oder mehr taktische Teams, bestehend aus 3-5 Personen, werden jede Demonstration begleiten, um Entscheidungen über eventuell notwendige Routenänderungen zu treffen. Sie werden möglicherweise von Kommunikations-Personen begleitet, und/oder tragen Handy's bzw. Funkgeräte.

Kommunikation: Es wird ein Kommunikationsnetzwerk mit Telefonen und Funkgeräten geben, um Sicherheit und Koordination zu gewährleisten. Bezugsgruppen und Zusammenschlüsse mögen ihre eigenen Telefone oder Funkgeräte haben wollen. Stellt sicher, dass Ihr Eure Handy-Nummer mit der Kommunikationszentrale austauscht, wenn Ihr Kontaktperson für eine Bezugsgruppe sein wollt. Es kann sein, dass eine kleine Radiostation auf Sendung geht.

Aktions-Unterstützung: Organisiert von ihren Bezugsgruppen, werden UnterstützerInnen taktischer Art sein, bezogen auf Menschen, nicht auf den Ort. Sie werden auf das Wohlergehen aller in ihrer Gruppe achten, sich um den Zugang zu Wasser, erster Hilfe, und um emotionale/de-eskalierende Unterstützung kümmern.

Polizeikontakt: Organisiert von ihren Bezugsgruppen, wird der Polizeikontakt dazu ermuntert, Zeit zu schinden, indem sie die Polizei aufhalten... Sie haben kein Verhandlungsmandat, sofern sie dazu nicht explizit von ihrer Bezugsgruppe ermächtigt werden, und dann nur für die eigene Bezugsgruppe.

Die oben genannten Rollen, und die Verantwortlichkeit aller Teilnehmenden, machen es überflüssig, dass Menschen einander Vorschriften machen.

Viv Sharples ist Mitglied des WRI-Rates und Gewaltfreiheitstrainerin.


ColorLines ist unter www.colorlines.com zu erreichen.

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