Ausschnitte einer ungeheuren Geschichte

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Roberta Bacic (Chile/England)
aus: Graswurzelrevolution, Juni 2002

Die Zeit und die Entfernung erlauben mir, eine gemeinsam erlebte Geschichte mit einer besonderen Bewegung aufzugreifen. Das Wesentliche blüht nicht nur wieder auf, sondern verlangt nach Tiefenschärfe. Und das Entbehrliche geht seiner Bestimmung entgegen. Die Zeit und die Strömung der Flüsse nehmen es mit sich, um das wichtigste zu bewahren, und läßt uns zu Menschen mit Geschichte und Gedächtnis werden. Während ich auf 'dieser Seite' der Welt in einem Landhaus auf den Glockenturm schaue, tragen mich Erinnerungen und Gefühle unglaublich nahe zur Stadt Osorno. Sie liegt dort, wo die Flüsse Rahue und Damas zusammenfließen, 910 Kilometer südlich von Santiago, der Hauptstadt meines Landes - Chile. Und nicht nur Osorno bringt sich in Erinnerung, sondern auch die umliegenden kleinen Dörfer: Entre Lagos, Rio Negro, San Pablo, Puerto Octay, El Encanto, Puyehue und so viele, viele andere, die auftauchen zwischen Flüssen, Seen, Vulkanen, Landstraßen, Wolken, Hügeln, Tälern, Wanderern, Vögeln, Ochsenwagen, Traktoren, Autos, klapprigen kleinen Landbussen, Überlandbussen. Und in jedem von ihnen sehe ich die Gesichter der Frauen und ihrer Familien auftauchen mit denen ich seit Beginn der 80er Jahre gemeinsam auf die Suche ging nach ihren verhafteten und verschwundenen Angehörigen. Und wir suchten gemeinsam ein besseres Leben und Miteinander.

Sie hatten sich schon auf diesen Weg gemacht; auch ich, in anderen Regionen. Auf uns lastete die Bürde von nahezu zehn Jahren grausamer Militärdiktatur. Und so, wo immer wir sind, zwischen Gesang, Poesie und Tränen verwandeln sich die Erinnerungen in Wirklichkeit. Dieser Januar führte mich in mein Heimatland, zu den meinen und auf die Suche nach den Bruchstücken meiner Identität.

Auf dem Weg zu „La Chascona"- dem Santiagoer Haus unseres Dichters Pablo Neruda, der einige Tage nach dem Militärputsch starb, nachdem das Militär in sein Haus eingedrungen war und es verwüstet hatte. Ich rief mir jedes ihrer Gesichter ins Gedächtnis. Wir fuhren weiter, zum Hafen von Valparaíso, wir erstiegen seine Hügel und fanden uns in seinem anderem Haus wieder, das „La Sebastiana" genannt wird. Und hier hielt ich Zwiesprache mit den Abwesenden, die immer gegenwärtig sind. Und so unter der Sonne, erinnerte mich die ruhige und tiefe Stimme von Neruda an unsere anhaltende Suche, gestaltet in seinem meisterlichen Werk „Die Höhen von Macchu Picchu":

„Ich komme, zu reden durch Euren toten Mund.
Durch das Erdreich hindurch vereint alle die schweigenden und verstreuten Lippen,
und aus der Tiefe sprecht diese ganze lange Nacht zu mir, als ob ich verankert wäre mit Euch ..."

(Übersetzung: Erich Arendt, aus: Pablo Neruda, Der große Gesang. Gedichte, hrsg. von Carsten Garscher, Hamburg 1984/1993)

Isabel, Juanita, Sara, Uberlinda, Gloria, Zulema, Blanca, Marianela, Elvecia, Carmen, Sabina, María, Rosa, Dina, Lastenia, Jovita, Margarita, Genoveva, Angélica, Angela und die, für die das Gedächtnis keinen Namen mehr findet, nehme ich wieder auf. Mit ihren Worten, registriert in dem Raum, den wir gemeinsam konstruierten. Mit welchem Recht teile ich dies mit? Und in dieser Begegnung erscheint Dr. Fernando Oyarzún, Begleiter von Reflexionen, Spaziergängen und ethischen Infragestellungen. Lange Stunden verbrachten wir miteinander seit 1975, mitten in dem gewalttätigen Universitätsleben von Valdivia. Ein Zeugnis dieses Weges erreichte mich per Post, sein letztes Werk, das im Juni 1998 erschien: „Die normale und anormale Person und die Anthropologie des Zusammenlebens". Er führt darin aus: „Das Gesicht des anderen stellt sich mir wie ein bedeutsames expressiv - kommunikatives Gebilde dar. In ihm kristallisieren sich in lebendiger Weise verschiedene Bipolaritäten: Das Psychische und das Körperliche - die Fröhlichkeit im Lächeln, der Kummer in der Mimik; das Einzigartige und Universelle - das sich nicht wiederholende in der Universalität seines Menschseins; die Welt und das Subjekt - das Andere und der Eine; das Wahrgenommene und das Vorgestellte, usw. Nun gut, in der lebendigen, direkten Beziehung ist das persönliche des Einen hervorgerufen durch den Anderen. In gewisser Weise eignet sich der Eine dadurch einen neuen, ganz bestimmten Gesichtsausdruck an. Diese Ausdrucksweise des entfernten Gesichtes verpflichtet zu einer Beziehung, einer Realität die auf der einen Seite fern ist und doch auf der anderen nahe, ähnlich und eigen..." Vereint in dem untergründig, dunklen der Straße Bilbao in Osorno, teilten wir die Suche, Erlebnisse, Geschichten, die Ereignisse und die Gefühle. Auch den Zorn, die Auseinandersetzungen mit der Ungerechtigkeit, der Straflosigkeit und dies zu tun, angesichts der Diktatur. So ließen uns diese Ereignisse, die vielen Momente, in denen wir das Erlebte - das Verschwinden eines Geliebten - teilten, die ganz besondere Bedeutung beschreiben. Das Einzigartige, das die Erfahrung an die Grenze des zu Begreifenden bringt, was der Verstand nicht mehr fassen kann, die Gefühle überwältigt. Dies charakterisiert die einzigartige Beziehung mit dem Abwesenden.

Juanita sagte uns: „Ich kann mich nicht mit der Tatsache abfinden, daß ich ihn an dem Morgen, als sie ihn mitnahmen, beschimpfte. Ich sagte, daß sie ihn suchten, weil er sich zuviel in Politisches einmischte und daß dies uns allen Probleme bringen würde. Und er konnte nicht mehr frühstücken bevor sie kamen. Ich werde für immer mit diesem Kummer bleiben, daß er traurig ging, die ärgerlichen Worte seiner Mutter im Ohr, ohne ihre Hilfe und ohne ihren Trost.... Ich möchte mir nicht vorstellen, wie seine letzten Augenblicke waren." Und Juanita, immer zärtlich und weich, sucht ihren Trost in der protestantischen Kirche, im Chor mit den anderen Frauen der Vereinigung der Familienangehörigen von verhafteten Verschwundenen, in der Suche nach ihrem Sohn und nach Gerechtigkeit. Sie hilft dabei ihren Nachbarn, die dies am meisten benötigen, sie kocht für ihren Mann, ihre Söhne und Enkel. Sie starb arm in ihrem Haus in einer Straße am Rand von Osorno. Nicht mal in diesem Moment konnte sie Frieden finden. Uniformierte besetzten einen Teil der Straße, in der sie lebte, näherten sich dem Ort, wo sie aufgebahrt lag. Sie erlaubten nicht das vollständige Trauerritual, zu dem ihre Familienangehörigen das Recht hatten und das sie verdiente. Das Recht, das ihnen auch für ihren Sohn völlig verwehrt worden war. Juanita ging mit einem Lächeln, trotz ihrer unendlichen Pein - und mit ihren neuen schwarzen Schuhen, die wir ihr kurz vorher geschenkt hatten für ihre vom unendlichem Laufen müden und kalten Füße.

Carmen, eine kleine Bäuerin, füllig und gutherzig, die in einer kärglichen Hütte in einem der Armenviertel von Osorno lebte. Immer kam sie zu den Versammlungen mit einem Körbchen mit gebackenem Brot oder Plätzchen. Sie bereitete sie mit besonderer Liebe zu, um ihre dürftigen Habseligkeiten solidarisch zu teilen. Im Moment der Verhaftung ihres Sohnes, bei der sie anwesend war, da sie ihn im eigenen Haus suchten, wohnte sie mit ihm und einer kleinen Enkelin auf dem Land. Ihr Sohn Carlos fuhr gerade Traktor. Sie erinnert sich daran, wie sie sagten: „Wir nehmen ihn mit, um ihm einige Fragen zu stellen, und dann wird er zurückkommen." Sie erwartete ihn 20 Jahre lang, ihre Tür hatte keine Klinke, seine Kleidung war immer sauber und gebügelt, alle Tage stand das Essen bereit, falls er in der Nacht käme, um den polizeilichen Maßnahmen in den ersten Jahren des Ausnahmezustands zu entgehen. Fünf Tage nach der Verhaftung zwangen sie die Besitzer ihres Landstücks, ihr Häuschen zu verlassen, und so gelangte sie nach Osorno. Sie zog mit Liebe ihre Enkelin auf, die es schaffte an der Universität zu studieren und Sekretärin der Vereinigung der Familienangehörigen der verhafteten Verschwundenen wurde. 1992 nahm Carmen an einer Versammlung der Gruppe teil und bot mir ihr selbstgebackenes Brot an, wie es ihre Art war. Als ich ihr dankte, sagte sie mir: „Ich bin eine sehr schlechte Mutter gewesen." Ihre kategorische Behauptung verwunderte mich und ich formulierte, warum ich sie für eine sehr gute Mutter hielte. Wir gingen in eine ruhige Ecke, und sie begründete ihre Aussage. Einige Tage vor der Versammlung hatte das nationale Fernsehen, kurz nachdem die erste demokratische Regierung nach der Diktatur gewählt worden war, ein Programm über Folter gezeigt. Sie bezog sich darauf, als sie ausführte: „Ich war sehr egoistisch, immer dachte ich, daß sie meinen Sohn an irgendeinem Ort lebend hätten, und daß er irgendwann wieder zurückkehren würde. Als ich diese Aussagen über Folter sah und hörte, wünschte ich, daß mein Sohn sofort tot gewesen ist, ohne zuviel leiden zu müssen, denn wenn er überlebt hätte, wäre er nach Hause zurückgekehrt." Seither erwartet sie ihn nicht mehr, aber sie fordert, daß seine Überreste gefunden werden, damit sie ihn an der Seite ihres Mannes christlich bestatten könne. Die Familie Leveque, eine alte Mapuche-Arbeiterfamilie von Osorno, war sehr verbunden mit der Regierung der Unidad Popular von Salvador Allende. Don Pedro war praktisch der Gründer der Kommunistischen Partei, und als solcher nahm er immer aktiv und öffentlich daran teil. Er hatte eine große Zahl von Kindern, der älteste Sohn Rodolfo war zum Zeitpunkt des Militärputsches 21 Jahre alt. Er war verheiratet und hatte einen Sohn, der heute kurz vor der Beendigung seines Anthropologiestudiums steht. Sie suchten beide, Vater und Sohn, nahmen sie mit und bei der Gelegenheit auch gleich den jüngeren Sohn Wladimir, der behindert war. Don Pedro überlebte drei harte Monate der Verhaftung und Folter, aber seine Söhne hatten nicht dieses Glück. Beide sind bis heute verschwunden. Uberlinda, die Frau von Pedro und Mutter der Söhne, war jahrelang Vorsitzende der Vereinigung der Familienangehörigen der verhafteten Verschwundenen. Sie machte unzählige Reisen nach Santiago, um die Gruppe von Osorno zu vertreten und um ihre Söhne zu suchen und medizinische Hilfe zu beantragen, weil diese Suche sie „verrückt machte", wie sie es nannte. In unseren Versammlungen wiederholte sie immer wieder: „Es schmerzt mich so, daß sie meine Söhne mitnahmen; bei Rodolfo war es klar, warum sie ihn suchten, weil er Vorsitzender der Kommunistischen Jugend von Osorno war. Aber was soll Wladi denn getan haben, er war doch gelähmt! Und sie haben mich ihm nicht seine Krücken geben lassen. Ich verzweifele daran, wenn ich denke was der Arme wohl gemacht hat, um auf die Toilette zu gehen, wo er doch nicht ohne Krücken gehen konnte." Doña Ube, wie wir sie liebevoll nannten, begleitete Don Pedro bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren, dann übertrug sie ihr Vorstandsamt an ihre Schwägerin Angelika und hat die Suche nach ihren Söhnen noch nicht abgeschlossen. Vor allem sucht sie ihren behinderten Sohn, denn: „Er benötigt das mehr, er hat nur mich. Rodolfo hat seine Frau und seinen Sohn, der schon ein Mann ist." Ich lernte auch Zulema kennen. Sie war schon alt, Anfang der 80er Jahre. Sie sagte immer, daß sie in der Vereinigung sei wegen José, ihrem verschwundenen Neffen. Und sie war mit Hingabe dabei, wenn seine Eltern, zwei alte Mapuchebauern nicht teilnehmen konnten. Sie hatte die Gabe zur Führerin, obwohl sie Analphabetin war, aber in ihren eigenen Worten begabt „mit einem Gedächtnis, wie es die Sozialarbeiterinnen gerne hätten, und mit der Fähigkeit, je nach den Gegebenheiten zu schweigen oder zu sprechen." Einige Jahre später, als in der Gruppe das Buch von Patricia Politzer „Die Angst in Chile" besprochen wurde, in dem die Geschichte von zehn von Angst gequälten Personen, die entweder Bedingungen extremer Repression überlebt hatten oder die Regierung der Unidad Popular gefürchtet hatten, sagte sie nichts, sondern bat mich in ihr Haus. Dort, nachdem ihre Kinder schliefen, sagte sie mir: „Ich will nichts wissen von dieser Journalistin, sie ist eine Ausnützerin, sie erzählt die Geschichte meiner Tochter und wird auf unsere Kosten reich, ohne zu wissen, daß sie uns damit in Gefahr bringt und ohne uns ein Exemplar des Buches zu geben." Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Ihre Tochter war Bürgermeisterin von Entre Lagos gewesen und mit ihrem Mann erschossen worden.

Sie überlebte dies jedoch, weil sie in den Fluß Pilmaiquén fiel. Sie durchschwamm ihn und konnte herauskommen. Sie bat bei Bauern um Hilfe und erzählte ihnen, daß ihr Mann sie mit einem Messer verfolgt hätte. Jahrelang wurde sie vom „Vikariat der Solidarität" versteckt, um nicht erneut gesucht zu werden. Ihre Kinder dachten, daß sie mit dem Vater gestorben sei. Zulema, ihre Mutter, bewahrte das Geheimnis mit großer Verschwiegenheit und hielt die Verbindung zu ihrer Tochter. Einige Tage danach fotokopierte ich die Geschichte ihrer Tochter Blanca und brachte sie Zulema. Wir tranken Mate zusammen am Küchenherd, ich las ihr die Geschichte vor und ließ ihr die Fotokopie. Wir kommentierten sie nicht, umarmten uns und gaben uns einen Kuß. Ich kam nur einmal zwei Jahre später kurz vor ihrem Tod zurück, um sie noch einmal zu sehen.

1992 zog ich nach Temuco. Dort lebt Blanca, die Tochter von Zulema. Wir kamen uns nahe, verbrachten schöne gemeinsame Momente in ihrer Wohnung. Ich half ihr, ihre Rechte als Ehefrau eines verhafteten Verschwundenen einzufordern. Ich habe von ihr erfahren, mit welchem Stolz es sie erfüllt hatte, von Salvador Allende als Bürgermeisterin nominiert worden zu sein, als Führerin der Bevölkerung der armen Viertel. Ich erfuhr auch einiges von ihrem Unglück, von ihrem fehlenden Vertrauen in die menschliche Justiz, ihrer anhaltenden Furcht, der Machtlosigkeit und dem Zorn, der sie erfüllt, nachdem sie die Verantwortlichen ihrer Exekution vor chilenischen und internationalen Tribunalen angeklagt hatte und zu wissen, daß die Schuldigen weiterhin frei sind und auf den Straßen unseres Landes herumlaufen wie jeder normale Bürger. Sie ist heute, nachdem sie viele Jahre in der Kommunistischen Partei gearbeitet hatte, aktives Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft.

In den armen Vierteln der kleinen Stadt Entre Lagos leben Jovita und ihre Familie und Lastenia. Auch Maria lebte dort. Doña Blanca hatte sie alle während ihrer Zeit als Bürgermeisterin gekannt. Jovita war damals noch ein Kind, Schwester eines verhafteten Verschwundenen, der zusammen mit Blanca, ihrem Mann und den anderen exekutiert worden war. Maria hatte ebenfalls ihren Mann verloren. Vor zwei Jahren konnte ich erreichen, daß Blanca den Ort des Geschehens besuchte. Sie tauschte sich mit ihren Freundinnen aus, erfreute sich der Freundschaft und war bewegt von den Erinnerungen. Sie erregte sich über das Ausmaß der Armut, in der sie leben, die größer ist, als damals, als sie im Amt war.

Sie besuchte die neue Brücke von Pilmaiquén, den Weg der alten Hängebrücke, wo sie exekutiert worden war mit den anderen Bauern, die alle noch verschwunden sind.

Sie besuchte das Monument, das wir 1990 errichtet hatten, um an die Gruppe mit den Worten des kubanischen Sängers Pablo Milanés zu erinnern: „Ich kehrte zurück, um aufs Neue die Straßen von Santiago zu betreten, die vom Blut befleckt waren." Lastenia ist Mapuche-Bäuerin, eine geborene soziale Kämpferin, Mutter von vier Kindern. Ich lernte sie in Osorno kennen, freigiebig mit ihrem traurigen Lächeln, warm in der Umarmung, direkt im Blick und kategorisch in der Wahrheit. Sie wiederholte immer die gleiche Geschichte: „Es gibt kein Recht, daß die Schuldigen frei herum gehen und kein kompetentes Gericht sie dazu bringt, zu sagen, wo sie sind." Jedesmal wurde sie wütender, sie war unfähig von etwas anderem zu sprechen. Ihre Genossinnen begannen bei allem Respekt ungeduldig zu werden. Eines Tages fragten wir sie, warum sie so oft die Geschichte wiederholte, die wir doch schon kannten. Sie antwortete, daß sie wüßte, wer in Entre Lagos die Menschen erschossen hatte und daß auch sie dabei sein sollte, aber nicht mehr in das Auto gepaßt hatte. Als die Polizisten betrunken zurückgekommen waren, hatte einer zu ihr gesagt: „Soll dich deine Bürgermeisterin retten, die ist nun von den Fischen gefressen worden". Es gab keine neuen Hinrichtungen und Lastenia rettete sich. Sie dachte, daß aufgrund ihrer einfachen Lebensverhältnisse niemand ihre Version glauben würde. Wir machten ein Rollenspiel, führten die Ereignisse auf und bestanden darauf, daß ihre Wahrheit die war, die zählte, daß dieses das kompetente Gericht war, das sie erwartete. Sie fühlte sich sehr erleichtert, später bezeugte sie die Vorfälle vor den Richtern von Osorno und fühlte, daß sie das ihre für die Abwesenden getan hat. Aber sie ist immer noch wütend, wenn sie sieht, daß die Mörder frei durch die Straßen spazieren, zu wissen, daß ihre Wahrheit, so wahr sie auch sei, ihnen nichts anhat, daß dies die vollkommene Straflosigkeit erlaubt. Von Osorno weiter in Richtung Süden treffen wir auf die kleine Stadt Río Negro. Dort lebt Isabel, die Frau von Mario, einem bekannten Sportler der Region, der Stadtrat für die Kommunistische Partei war. Er wurde ein paar Tage nach dem Putsch verhaftet und im Unterschied zu anderen Verschwundenen, konnte ihn seine Frau ein paarmal treffen, als er im spanischen Stadion inhaftiert war. Sie sah, wie sein Gesundheitszustand immer schlechter wurde und beim letzten Mal, als sie ihn sehen konnte, bat er sie, ihn nicht zu umarmen, da seine Rippen gebrochen waren. Als sie das nächste Mal an den Ort kam, wurde ihr erklärt, daß er freigelassen worden sei und sicher irgendwann nach Hause käme. Dies geschah nicht. Sie wartete auf ihn und suchte ihn mit ihren zwei Söhnen. Sie machte zahlreiche Reisen, um Spuren zu verfolgen, sie kam auch nach Santiago. Jedesmal, wenn sie einen Vagabunden sah, glaubte sie, es sei Mario, denn sie dachte, als Folge der Folter hätte er die Haft in schlechtem Zustand verlassen und daß er nun desorientiert sei und versuchte, nach Haus zu finden. Währenddessen zog sie ihre Söhne auf und beteiligte sich mit ihnen an der Vereinigung der verhafteten Verschwundenen. Ihre Söhne begannen sich politisch zu organisieren, als die Diktatur endete. Dennoch, der ältere, der heute ein bekannter Buchhalter in Puerto Montt ist, wandte sich von jeder öffentlichen Aktivität ab, als er sah, daß sich das neoliberale Modell fortsetzte, und wie an den Praktiken des militärischen Regime weiter festgehalten wurde. Der jüngere Sohn nimmt jedoch weiterhin teil.

Jahre später brachte sie ihr solidarisches Empfinden, das weiß, was soziale Verlassenheit bedeutet, dazu, ein Mädchen zu adoptieren, das von seiner Mutter nicht aufgezogen werden konnte. Viviana ist heute 12 Jahre alt und begleitet häufig ihre Großmutter Isabel. In dem Prozeß der Annäherung an die Familien und meiner Verpflichtung ihren Lebensumständen gegenüber, baten sie mich, Patin der Kleinen zu werden. Es war eine schöne Erfahrung, diese enge Bindung einzugehen, die mich mit ihnen nicht nur im Kampf um die Menschenrechte ein Leben lang verknüpft.

Seit einigen Jahren erhält Isabel eine Wiedergutmachungspension vom Staat. Sowohl für sie wie auch für andere, die sie bekommen, hat sich dadurch die Lebensqualität verbessert. Doch Isabel erklärt: „Sie geben mir nur, was mir zusteht. Mit Mario hat uns nie etwas gefehlt, und nach den Vorfällen lebten wir jahrelang in Armut, von allen schlecht angesehen. Außerdem hat es keine Gerechtigkeit gegeben, dies wäre etwas von Wiedergutmachung. Ich möchte niemandem das wünschen, was wir leben, nicht mal seine Knochen haben sie uns ausgehändigt. Wenn sie uns nur einige gäben, fühlten wir uns ruhig und die Seele käme in unseren Körper zurück, so leben wir ständig im Zweifel." Ein bißchen weiter ins Innere von Río Negro, dem engen Weg folgend, mitten in schöner Landschaft liegt Riachuelo, ein kleines Dörfchen, in dem Land- und Forstarbeiter leben.

Dort lebte die Familie Barría-Bassay, bis die Eltern vor drei Jahren aus gesundheitlichen Gründen und weil sie näher bei ihren überlebenden Kindern sein wollten, nach Osorno gezogen sind. Wenige Tage nach dem Militärputsch wurden zwei Söhne im Alter von 19 und 21 gefangen genommen, die aktiv in der Sozialistischen Partei waren. Seit dieser Zeit sind sie verschwunden. Sie nahmen die zwei Kinder der Verhafteten und zogen sie wie eigene Kinder auf. Eine Großmutter mütterlicherseits zog ein weiteres der Kleinen auf. Sie machten sehr schwierige Zeiten durch. Elvecia Bassay hat Gefühle und Wärme behalten, trotz allem was sie durchgemacht hat. Ich erinnere mich, daß ich mit zwei großen Gläsern selbstgemachter Marmelade nach Holland gereist bin, um sie einem Bruder, der dort im Exil lebte, zu bringen. Ihre Fähigkeit, trotz der großen Armut zu teilen, überraschte mich und ich sah voller Freude, wie dieses Geschenk aufgenommen wurde. Ich habe während der Jahre an ihrer Suche nach den Söhnen teilgenommen, habe beigetragen mit Präzedenzfällen und habe jede gerichtliche Aktion unterstützt. Ihre Aussage angesichts des Todes eines weiteren Sohnes bei einem Verkehrsunfall hat mich sehr beeindruckt:

„Es ist schrecklich, ein Kind zu verlieren ist das schlimmste, das einer Mutter passieren kann. Es ist unnatürlich, man ist da um sie aufzuziehen und sie als Männer und Frauen zurückzulassen. Aber einen verschwundenen Sohn zu haben, ist schlimmer. Und wir verloren zwei. Man kann es nicht verstehen, man hat keinen Frieden. Ich sage, es wäre schrecklich gewesen meinen Mann zu verlieren, aber auf irgendeine Weise, wäre man vorangekommen. Ich werde nie ausruhen. Manchmal denke ich, nicht mal, wenn ich tot bin." Diese kleinen Geschichten beanspruchen nicht die Stücke eines Puzzles zu sein. Ich teile sie nur mit in der Hoffnung die Vorhänge etwas zu lüften und den Blick zu öffnen für Welten, Erlebtes und Wirklichkeiten, die wir uns ohne das lebendige Zeugnis der Protagonistinnen nicht vorstellen könnten. Wenn das Geschenk ihres Vertrauens, ihrer Freundschaft und meine Feder dazu beitragen, fühle ich, daß wir Entfernungen überbrückt und uns im Verstehen angenähert haben.

Autorin:

Roberta Bacic, derzeit in London. Verantwortlich für Programm und Entwicklung bei War Resisters' International. Hat in Chile bei Codepu (Komitee zur Verteidigung der Rechte des Volkes, Serpaj (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit und der Corporación Nacional de Reparación y Reconciliación (Nationale Korporation zur Wiedergutmachung und Versöhnung) geforscht und als Hochschullehrerin an der Katholischen Universität in Temuco gearbeitet. Letzte Veröffentlichung: Tod und erzwungenes Verschwinden in Araucanien. Eine ethnische Annäherung, Pau Pérez, Roberta Bacic, Teresa Durán, Verlag der Katholischen Universität, Temuco, September 1998.

Übersetzung: Gaby Franger

Beitrag zum Workshop 'Psychosoziale Beratung von Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und Opfern von Menschenrechtsverletzungen' bei der Tagung 'Menschenrechte und Soziale Arbeit' an der Fachhochschule Coburg, Fachbereich Sozialwesen, 30.11-1.12.2000

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