Asylverfahren des US-Deserteurs André Shepherd

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Wie geht es weiter nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes?

von Rudi Friedrich

Am 26. Februar 2015 definierte der Europäische Gerichtshof zum Asylantrag des US-Deserteurs André Shepherd Grundsätze für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in München. Viele Medien sehen nun seine Chancen, Asyl zu erhalten, als sehr unwahrscheinlich an. Ob das wirklich so ist und welche Konsequenzen das Urteil hat, dafür gibt Rudi Friedrich von Connection e.V. eine erste Einschätzung. (d. Red.)

André Shepherd, US-Soldat und 2004 als Mechaniker für Kampfhubschrauber im Irak-Einsatz, hatte sich bei einem Deutschlandaufenthalt der Fortsetzung seines Einsatzes entzogen und 2008 einen Asylantrag gestellt. Er berief sich dabei auf die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union. Mit ihr sollen unter anderen die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen.

2011 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag ab. Die hiergegen eingelegte Klage führte dazu, dass das Verwaltungsgericht München wesentliche Fragen zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegte, im Kern mit der Frage, „ab welchem Grad der Verstrickung in militärische Auseinandersetzungen das Flüchtlingsrecht einem Angehörigen der Streitkräfte eine Desertion zugesteht, wegen der er bestraft wird.“

Der Europäische Gerichtshof, das sei vorangeschickt, hatte also nicht über den Asylantrag selbst zu entscheiden, sondern darüber, wie das Verwaltungsgericht in München bei der Prüfung des Asylantrages vorzugehen habe und was zu berücksichtigen sei. Dazu fand im Juni 2014 eine Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof statt, bei der sowohl die Europäische Kommission, einige Mitgliedsländer der Europäischen Union, wie auch der Anwalt von André Shepherd Stellungnahmen abgaben. Geleitet wurde die Anhörung von der Generalanwältin Eleanor Sharpston, die aufgrund der ihr schließlich vorliegenden Dokumente im November 2014 ein Gutachten dazu veröffentlichte und dem Gerichtshof einen Wortlaut des Urteils vorschlug, der in etwa folgendes beinhaltete1:

- In den Schutzbereich der Qualifikationsrichtlinie fallen auch Soldaten, die nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, wenn ihr Handeln zu menschenrechtswidrigen Handlungen beiträgt. Das Bundesamt für Migration hatte dies zuvor verneint.

- Der Deserteur muss im Rahmen des Asylverfahrens nicht beweisen, dass er in menschenrechtswidrige Handlungen verstrickt war oder werden würde, wie vom Bundesamt verlangt. Es genügt eine auf Tatsachen gestützte Prognose

- Auch ein UN-Mandat für den Krieg, in dem der Deserteur eingesetzt war oder eingesetzt werden sollte, schließt eine Flüchtlingsanerkennung nicht grundsätzlich aus.

- Der Deserteur muss im Asylverfahren nachweisen, dass er entweder ein existierendes Verfahren zur Kriegsdienstverweigerung durchlaufen hat oder aber ein solches aus konkreten Gründen nicht in Anspruch nehmen konnte.

- Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Militärdienstverweigerer Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne des Flüchtlingsrechtes ist, ist die Ernsthaftigkeit der Gewissensüberzeugung zu prüfen, ebenso, ob die Angehörigen dieser Gruppe in ihrem Herkunftsland ausgegrenzt würden.

Häufig folgt das Gericht diesen Vorschlägen, im Falle von André Shepherd wich es allerdings deutlich davon ab.

Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes

Zunächst stellte das Gericht fest, dass "alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals"2 sich auf die in Frage kommende Regelung der Qualifikationsrichtlinie beziehen können. Das ist insofern wichtig, da verschiedene Länder in der Anhörung argumentiert hatten, dass sich lediglich Soldaten und Soldatinnen darauf berufen dürften, die direkt an Kampfhandlungen beteiligt sind. Damit wäre André Shepherd als Mechaniker grundsätzlich ausgenommen worden. Der Europäische Gerichtshof hat also ausdrücklich erklärt, dass er mit seiner Tätigkeit unter die Regelung fällt. Allerdings schränkt der Gerichtshof dies im nächsten Absatz wieder ein und erklärt, dass es "bei vernünftiger Betrachtung plausibel" erscheinen muss, dass er sich bei der Ausübung seiner Funktionen "in hinreichend unmittelbarer Weise" an Kriegsverbrechen beteiligen müsste.

Sehr restriktiv geht der Europäische Gerichtshof mit der Frage um, in welchem Maße André Shepherd darzulegen hat, dass er sich bei einem erneuten Einsatz im Irak an Kriegsverbrechen hätte beteiligen müssen. Der Gerichtshof sieht es zwar als möglich an, dass es Kriegsverbrechen gegeben haben könnte, verweist aber darauf, dass "eine bewaffnete Intervention, die auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrats durchgeführt wird, grundsätzlich alle Garantien dafür bietet, dass bei ihrer Durchführung keine Kriegsverbrechen begangen werden; das Gleiche gilt grundsätzlich für eine Operation, über die ein internationaler Konsens besteht." Auch wenn Kriegsverbrechen dann nicht auszuschließen seien, müsse dem im Verfahren Rechnung getragen werden.

Um es konkret zu machen: Die Intervention im Irak im März 2003 erfolgte ohne Beschluss des Sicherheitsrates, eine Verurteilung des Krieges durch den Sicherheitsrat wurde durch die Vetomächte USA und Großbritannien verhindert. Bereits im Mai 2003 legte der Sicherheitsrat Regeln für das Besatzungsregime von USA, Großbritannien und den anderen Beteiligten der "Koalition der Willigen" fest. Es ist völkerrechtlich strittig, ob damit für den weiteren Krieg ein Mandat des Sicherheitsrates vorliegt. Die USA und mit ihr verbündete Länder gehen sicherlich davon aus, dass damit ein Mandat vorlag.

Ähnlich restriktiv wertet der Europäische Gerichtshof das Vorliegen von rechtlichen Möglichkeiten der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen. Wenn "es in der Rechtsordnung dieser Staaten Rechtsvorschriften gibt, die Kriegsverbrechen unter Strafe stellen, und Gerichte, die ihre tatsächliche Ahndung sicherstellen, lässt die These, dass ein Militärangehöriger eines dieser Staaten zur Begehung solcher Verbrechen gezwungen sein könnte, wenig plausibel erscheinen."

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch auf ein weiteres Ausschlusskriterium des Europäischen Gerichtshofes. Wenn der Asylsuchende die Möglichkeit gehabt hätte, ein reguläres Kriegsdienstverweigerungsverfahren zu durchlaufen, schließt das "jeden Schutz" entsprechend der Regelung der Qualifikationsrichtlinie aus, wenn er nicht beweisen könne, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.

Eine erste Einschätzung

Der Europäische Gerichtshof hat Partei genommen: gegen Deserteure, für die Souveränität kriegführender Staaten. Gerade die Feststellung, ein vom UN-Sicherheitsrat mandatierter Krieg sei ein Garant dafür, dass keine Kriegsverbrechen begangen würden, ist geradezu erschreckend. Allzu gut sind uns die Berichte über die wahllose Bombardierung der Städte, über Abu Ghraib und anderes in Erinnerung. Hier wird per Tatsachenbehauptung die Realität verdreht. Zudem vertraut der Gerichtshof allein auf die Rechtssysteme kriegführender Staaten, nach denen sie Kriegsverbrechen bestrafen würden, was in der Praxis in keiner Weise nachzuvollziehen ist.

Wer die Berichte von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen über den Irakkrieg liest, stellt schnell fest, dass es eine Fülle von auch detaillierten Beschreibungen über Kriegsverbrechen gibt.3 Eine Strafverfolgung fand in den USA in der Regel nicht statt. Dafür sorgte allein schon die Berichterstattung in der Armee selber, die in aller Regel nach Angriffen davon spricht, dass nur "Aufständische" getötet worden seien. Was ist davon zu halten? Hier eins von vielen Beispielen: Am 24.12.2005 brachte die Washington Post einen ausführlichen Bericht über mögliche zivile Opfer einer Militäroffensive, die im Vormonat westlich von Bagdad den Euphrat hinauf führte. Neben "Aufständischen" seien dabei auch zahlreiche ZivilistInnen getötet worden, vorwiegend durch Luftangriffe. Wie viele ZivilistInnen unter den Getöteten sind, sei umstritten, aber Krankenhäuser, medizinisches Personal und AugenzeugInnen würden bezeugen, dass "Massen von Nichtkombattanten" Opfer der 17-tägigen Operation "Steel Curtain" wurden. Die US-Armee berichtete nur von 139 getöteten "Aufständischen" und zehn gefallenen US-Marines.4

Das weitere vom Europäischen Gerichtshof definierte Ausschlusskriterium, wenn es eine Möglichkeit zur Kriegsdienstverweigerung gäbe, trifft auf André Shepherd so nicht zu. Von Anfang an hat er deutlich gemacht, dass er sich keineswegs als Pazifist versteht und ein von ihm zu stellender Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach der Rechtslage des US-Militärs abgelehnt hätte werden müssen.

Keine Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof dazu getroffen, wann Kriegsdienstverweigerer einen asylrechtlichen Schutz beanspruchen können. Die Generalanwältin Eleanor Sharpston hatte in ihrer Vorlage noch deutlich gemacht, dass ein Kriegsdienstverweigerer, der sich aus Gewissensgründen einem bestimmten Krieg verweigert – auch ohne Pazifist zu sein – unter den Schutzbereich der Richtlinie fallen kann, wenn „ein unüberwindlicher Konflikt zwischen den Dienstpflichten und seinem Gewissen besteht.“ Wenn Kriegsdienstverweigerer strafrechtlich verfolgt oder auf diskriminierende Weise behandelt werden, so die Generalanwältin, können sie Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Flüchtlingsrechts sein. Da der Europäische Gerichtshof dazu keine Stellung bezog, wird das Verwaltungsgericht auch thematisieren müssen, inwieweit eine Gewissensentscheidung für das Asylbegehren relevant ist.

Wie geht es weiter?

André Shepherd wird das Verfahren weiterführen. Als nächstes steht die Hauptverhandlung vor dem Verwaltungsgericht in München an. Da der Europäische Gerichtshof praktisch dekretiert hat, dass er aufzeigen müsse, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen wäre, wird genau dies Thema sein. 2005 hatte dazu das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Falle des deutschen Majors Pfaff, der Unterstützungsleistungen für den Irakkrieg verweigerte und deshalb disziplinarrechtlich belangt wurde, entschieden, dass er freigesprochen werden müsse und im Urteil ausgeführt: Gegen den Irakkrieg „bestanden und bestehen gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht.“5 Um all diese Fragen wird es in München gehen. Im Gerichtsverfahren, das ist heute schon abzusehen, wird die Kriegführung der USA, werden die Kriegsverbrechen während des Irakkriegs ein wichtiges Thema sein. Ein Tribunal? So sieht es aus.

Ob André Shepherd am Ende Asyl erhält? Sicherlich wissen wir alle, dass Gerichtsentscheidungen auch politische Entscheidungen sind. Und eine Asylanerkennung würde von den USA möglicherweise nicht als hilfreiche Kritik, sondern als Affront des verbündeten Deutschlands wahrgenommen werden. Für uns ist nach wie vor klar, dass André Shepherd gute Gründe und ausführlich dargelegt hat, warum er in seiner Situation keine andere Wahl hatte, als zu desertieren und um asylrechtlichen Schutz zu bitten.

Fußnoten

1 Schlussanträge der Generalanwältin unter www.connection-ev.org/pdfs/14StSh-de.pdf

2 Wortlaut des Urteils unter www.connection-ev.org/pdfs/2015-02-26_UrteilEuGH.pdf

3 So z.B. Consumers for Peace: War Crimes Committed by the United States in Iraq and Mechanisms for Accountability, October 10, 2006; U.S. War Crimes in the 'Surge' - 2007, 6. September 2007 ; U.S. War Crimes in Iraq 2007-2008 - An Update. April 1, 2008

4 U.S. Airstrikes Take Toll on Civilians - Eyewitnesses Cite Scores Killed in Marine Offensive in Western Iraq", Washington Post, 24.12.2005; iehe auch: Dahr Jamail, "Operation - Steel Curtain", 7.11.2005 und Bill Van Auken, "Steel curtain in Iraq - another US war crime”, WSWS, 8.11.2005

5 BVerwG 2 WD 12.04

Rudi Friedrich: Asylverfahren des US-Deserteurs André Shepherd - Wie geht es weiter nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes? 10. März 2015. Der Artikel erscheint in der graswurzelrevolution April 2015

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