Flotte der Freiheit nach Gaza – eine Aktion entwickelt sich zum Dilemma

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Majken Jul Sørensen

Im Jahre 2010 stach ein Konvoi von sechs Schiffen, genannt die Flotte der Freiheit, in See, um die Blockade Gazas anzugehen, was ein beachtliches Dilemma für die israelischen Behörden darstellte. An Bord der Schiffe waren ca. 700 unbewaffnete Zivilisten aus der ganzen Welt, einschließlich einiger berühmter Persönlichkeiten, wie der schwedische Krimiautor Henning Mankell und Parlamentarier aus einer Vielzahl von Ländern. Zusätzlich zu den Passagieren und Vertretern der Medien transportierten die Schiffe auch 10.000 Tonnen humanitärer Hilfe, wie Baumaterial und medizinische Geräte (wie Röntgen- und Ultraschallgeräte).i Die Länge der Reise bedeutete, dass sich der Druck während des Anlaufens der Schiffe an Gaza aufbaute und diese Reise vor den Augen der Welt zu einem Drama werden ließ.

Die Flotte der Freiheit ist ein gutes Beispiel für eine Dilemma-Aktion, eine Art gewaltfreier direkter Aktion, die den Gegner zwingt, zwischen Reaktionen zu wählen, die von ihrem Standpunkt aus gleichermaßen schlecht sind.

Der amerikanische Gewaltfreiheitsaktivist George Lakey schrieb als erster in seinem Buch Powerful Peacemaking über – wie er es nannte – "Dilemma-Demonstrationen".ii Er präsentierte das Dilemma als Wahl für die Behörden zwischen zwei Optionen: entweder die Protestierenden weiter demonstrieren lassen, womit ein direktes Ziel erreicht werden würde, oder Gewalt anwenden, um sie aufzuhalten, und dadurch die raue Seite aufzuzeigen und öffentliche Betroffenheit zu erzeugen.
Brian Martin und ich entschieden, dieses Thema (Dilemmaaktionen) systematisch in einem kleinen Forschungsprojekt zu untersuchen. Wir haben uns einige Fälle angesehen, einschließlich der Flotte für die Freiheit, um die Kerncharakteristiken einer Dilemmaaktion zu identifizieren. Wir stellten fest, dass das wesentliche Merkmal einer Dilemmaktion ist, dass der Gegner keine offensichtlich beste Reaktionsmöglichkeit hat. Die attraktivsten Reaktionen sind Mischungen aus Vorteilen und Nachteilen, die nicht direkt vergleichbar sind durch Einschätzungen zu der Zeit oder danach. Viele gewaltfreien Aktionen sind Reaktionen auf Aktionen der Behörden oder multinationalen Firmen: Aktivisten reagieren auf eine von anderen vorgegebene Agenda. In Dilemmaaktionen sind Aktivisten proaktiv.

Die meisten gewaltfreien Aktionen stellen nie ein Dilemma dar. Nehmen wir z. B. einen konventionellen Ausdruck sozialer Betroffenheit, wie einen Antikriegsmarsch am Hiroshima-Tag in einer liberalen Demokratie: Behörden können das tolerieren oder sogar das Ereignis erleichtern, da es keine Bedrohung für gesicherte Rechte darstellt, wogegen das Verbot Feinseligkeit hervorrufen würde. Einige Formen zivilen Ungehorsams, wie Pflugscharenaktionen einschließlich Beschädigung militärischer Ausrüstung, stellen auch kein Dilemma dar, da die Behörden genau wissen, was zu tun ist: Verhaftung der Aktivisten, die sich bereitwillig der Polizei ergeben. Trotzdem halten wir es für nützlich, Dilemmaaktionen eher als einen Grad anzusehen als zwiespältig entweder präsent oder nicht präsent.

Für das Dilemma, das die Aktivisten auf der Flotte der Freiheit auf den ersten Blick erzeugten, gab es zwei "Lösungen": entweder das Schiff in Gaza einlaufen zu lassen mit den Passagieren und der Ware – das würde in den Augen vieler Israeli bedeuten, dem Druck nachzugeben. Die andere Option war, die Schiffe anzuhalten, und in dem Fall kam das nächste Dilemma: mit welchen Mitteln sollte das geschehen und wann? Letztendlich griffen Kommandosoldaten der israelischen Verteidigungsarmee früh morgens am 31. Mai 2010 an, während die Schiffe immer noch in internationalen Gewässern waren. An Bord der Mavi Marmara wurden neun türkische Bürger getötet, ein paar davon aus der Nähe erschossen.iii Diese Morde erzeugten ein enormes PR-Desaster für die israelische Regierung und wurden auf der ganzen Welt verurteilt. Der Einsatz der Armee ging für die israelische Regierung nach hinten los, obwohl sie sich bemühte, den öffentlichen Aufschrei zu bremsen.iv Viele Regierungen bestellten die israelischen Botschafter ein oder riefen ihre eigenen Botschafter zurück.v Die Beziehung zu der türkischen Regierung, die jahrzehntelang einer der wenigen Verbündeten der israelischen Regierung im Nahen Osten waren, war für mehr als ein Jahr beschädigt. Obgleich die Obama-Administration in den Vereinigten Staaten sich mit ihren Reaktionen sehr zurückhielt, brachte sie doch Kritik an der israelischen Regierung vor. Eine UN-Kommission wurde gebildet, um die Angriffe zu untersuchen, und diese kam im August 2011 zu dem kontroversen Schluss, dass die Blockade des Gazas nicht illegal war, aber das die Anwendung von Gewalt übermäßig und unvernünftig war.vi

Dilemmaaktionen liefern einen Ansatz, um die Effektivität gewaltfreier Strategien zu erhöhen. Wenn sie mehr über die Dynamik von Dilemmaaktionen wissen, können die Aktivisten ihre Aktionen so konstruieren, dass sie schwierige Dilemmas für ihre Gegner darstellen und die Gegner dazu bringen, minderwertigere Entscheidungen zu treffen oder ihre Bemühungen für die Vorbereitung mehrerer Reaktionsmöglichkeiten zu verschwenden.

Innerhalb der Bewegung Flotte der Freiheit gab es Diskussionen darüber, wie das Dilemma von 2010 sogar noch verstärkt werden könnte. Im folgenden Jahr plante die Kampagne, die Reise zu wiederholen, und 12 Schiffe lagen bereit, um zum Gaza zu fahren, 10 davon aus griechischen Gewässern.vii Weitere Schiffe mit Passagieren aus noch mehr Ländern wurden als Mittel ausgewählt, den Druck zu erhöhen.

Die israelische Regierung vermied jedoch eine Wiederholung des 2010 Szenarios, indem sie subtilere Methoden anwandte, um die Schiffe anzuhalten. Sie kultivierten Beziehungen zu der griechischen Regierung und starteten eine erfolgreiche diplomatischen Offensive, die daran resultierte, dass der UN-Generalsekretär, Ban Ki-moon, alle Regierungen aufrief, ihre Bürger zu drängen, nicht an einer zweiten Flotte teilzunehmen.viii Die griechischen Behörden ließen die Schiffe nicht aus ihren Häfen auslaufen; die Schiffe, die trotzdem versuchten auszulaufen, wurden von der griechischen Küstenwache abgefangen.ix Zwei der Schiffe hatten ähnliche Schiffsschraubenschäden, was den Verdacht aufkommen ließ, dass sie durch den israelischen Geheimdienst sabotiert wurden.x Die türkischen Behörden haben auch die Mavi Marmara daran gehindert, die Türkei zu verlassen – trotz der Kritik der türkischen Regierung an der Blockade des Gazas. Nur ein Schiff, das in Frankreich ablegte, wurde durch israelische Kommandosoldaten betreten und es wurde niemand getötet.xi Diese Vorfälle verhinderten ein mögliches PR-Desaster für die israelische Regierung. Durch proaktives Lobbying erledigten die israelischen Behörden das mögliche Dilemma, bevor es sie erreichte. Sie brachten es fertig, daraus eine Angelegenheit von Erlaubnissen zum Auslaufen aus den Häfen zu machen. Bürokratische Hindernisse sind weitaus weniger nachrichtenträchtig als ein militärischer Angriff in internationalen Gewässern.

Der Versuch im Jahre 2011, die Blockade zu brechen, zeigt ganz klar, wie schwierig es ist, vorauszusehen, was ein Gegner im Angesicht eines Dilemmas tun wird, wenn Aktionen und Reaktionen keine Routine sind. Die Aktivisten hatten sich auf viele unterschiedliche Reaktionen der israelischen Regierung vorbereitet, aber die Möglichkeit solcher bürokratischer Hindernisse nicht vorausgesehen. Ein Weg, diese Hindernisse zu überwinden, wäre das Auslaufen der Schiffe aus anderen Häfen in unterschiedlichen Ländern gewesen. Das hätte jedoch die organisatorische Herausforderung der gemeinsamen Ankunft im Gaza nur verstärkt. Es hätte eine Art des Etablierens des Dilemmas für einen längeren Zeitraum sein können und somit den Druck erhöhen; es hätte aber auch leichter sein können, die Schiffe mit Gewalt separat zu stoppen, ohne das Mediendrama der ersten Fahrt.

Wir waren in der Lage, zusätzlich zu dem Kernmerkmal einer Dilemmaaktion fünf häufig in tatsächlichen Dilemmaaktionen gefundenen Faktoren zu identifizieren, die das Auswählen noch mehr erschweren. Zu Beginn vermuteten wir, dass einige davon ein notwendiger Teil einer Dilemmaaktion seien, aber nachdem wir uns eine Anzahl von Fällen angesehen haben, stellte sich heraus, dass sie das nicht sind. Trotzdem können diese Faktoren zu dem Dilemma hinzugefügt werden: (1) die Aktion hat ein konstruktives, positives Element; (2) Aktivisten wenden Überraschung oder Unvorhersehbarkeit an; und (3) die primäre Wahl des Gegners liegt in unterschiedlichen Domänen. Unterschiedliche Domänen bedeutet, dass die Konsequenzen nicht leicht vergleichbar sind, z. B. wenn eine Auswahl ideologische Konsequenzen und eine andere politische Konsequenzen hat. Dilemmaaktionen können auch einen Zeitablauf erzeugen, der (4) die Massenmedien aufmerksam macht, womit es den Behörden erschwert wird, sie zu ignorieren und (5) an weitverbreitete Vorstellungen appelliert. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass das Dilemma schwerer "zu lösen" ist, aber sie sind nicht für dessen Konstruktion wichtig. Regierungen und ihre Vertreter, wie Polizei und Gefängnisbeamte, sind oft diejenigen, die gezwungen sind, Dilemmas zu bewältigen. Das ist jedoch kein Kernmerkmal einer Dilemmaaktion, da diese auch gegen private Unternehmen, z.B. Banken oder Finanzanstalten gerichtet sein können.

Stellan Vinthagen, gewaltfreier Gelehrter und Aktivist und selbst an Bord des Schiffes nach Gaza im Jahre 2012, hat geschrieben, dass zwei Aspekte der 2010-Flotte kombiniert wurden, um diese zu einer machtvolleren Dilemmaaktion zu machen, im Vergleich zu früheren Versuchen, die Blockade zu brechen: (1) es war normale humanitäre Unterstützung, nicht nur symbolische Mengen, und (2) die Lieferung per Schiff bedeutete, dass die Aktivisten zum Brechen der Blockade nicht von den israelischen Behörden abhängig waren. Vinthagen schreibt: "Ein Schiff ist nicht "auf seinem Weg", um eine Aktion durchzuführen. Die Abfahrt selbst markiert den Beginn der Aktion: den Angriff auf die Blockade. Die Aktion lief bereits einige Tage, bevor Israel eine realistische Chance hatte, sie zu stoppen."xii

Normalerweise ist die beste Option für die Gegner, die Aktion zu stoppen, ohne dass es jemand merkt. Die Strategie der Aktivisten ist dann, sie so publik zu machen wie möglich. Bei den Flotten der Freiheit erhöhten die Organisatoren die Aufmerksamkeit, indem sie Leute aus unterschiedlichen Ländern, einschließlich Journalisten, Autoren und Parlamentarier, einbezog. An Land kontrollierte die israelische Regierung den Zugang zum Gaza. Die Organisatoren der Flotte der Freiheit wählten deshalb bewußt das Meer als ihre Arena. Sie konnten entscheiden, wann sie auslaufen wollten. Im Jahre 2011 verloren sie jedoch den Überraschungseffekt und waren nicht in der Lage, die Art der Reaktion durch die israelische Regierung vorauszusehen. Die Erfahrung veränderte die Kalkulation der israelischen Behörden, und ihre Vorbereitungen bedeuteten, dass sich die Bedingungen verändert hatten und das Dilemma nicht mehr das gleiche war. Aktivisten mußten ihre Pläne und Vorbereitungen ändern, um sicherzustellen, dass das Dilemma in einer anderen Form weiterbestand. Dass die Israelis hart daran arbeiteten, eine mögliche Wiederholung der Erfahrung aus 2010 zu verhindern, liefert einen weiteren Beweis dafür, dass die Ereignisse im Jahre 2010 auf die israelische Regierung zurückfiel.

Es erschwert die Dilemmas, wenn der Gegner Konsequenzen aus unterschiedlichen Domänen vergleichen muß. Es kann schwierig sein, den Nutzen einer zustimmenden Reaktion von Unterstützern mit negativer Rückmeldung von einer anderen Zielgruppe zu vergleichen. Die israelischen Behörden mußten ihr Selbstbildnis, dass das Aufhalten einer Blockade den Schutz Israels bedeutete, mit dem entstandenen Aufschrei vergleichen, als internationale Zielgruppen dies als Angriff auf humanitäre Hilfspersonen in international Gewässern sahen.

Unvorhersehbarkeit war auch ein Faktor, der den Vergleich der Möglichkeiten behinderte. Weder die Israelis noch die Flotte der Freiheit konnte einfach vorhersagen oder kontrollieren, wie die türkische Regierung oder die Leute reagieren und welche langfristigen Konsequenzen daraus resultieren würden.

Die Zeitplanung ist ein weiterer Aspekt von durch die Flotte der Freiheit betonten Dilemmaaktionen. Die israelischen Behörden mußten nicht nur zwischen unvergleichbaren Bereichen wählen, sondern auch kurz-, mittel- und langfristige Konsequenzen bedenken. Was kurzfristig als gute Lösung erscheint, kann sich langfristig als Rückschlag herausstellen.
Dilemmaaktionen sind eine Art von Aktionen, bei denen Gegner zwischen zwei oder mehreren möglichen Reaktionen wählen müssen, wovon jede beachtliche negative Aspekte hat; die Möglichkeiten sind nicht leicht vergleichbar und das ist der springende Punkt des Dilemmas. Für Aktivisten können Dilemmas attraktiv erscheinen, da sie die Aussicht auf Erfolg anzubieten scheinen, gleich was der Gegner tut. Trotzdem sollten Aktivisten nicht davon besessen sein, Dilemmas zu erzeugen. Obgleich sie ein paar Gelegenheiten bieten, ist das Schaffen von Dilemmas für den Gegner nicht notwendig, damit gewaltfreie Aktionen in den Augen ihrer Organisatoren und Unterstützer erfolgreich sind.

Majken Jul Sørensen ist Aktivist des schwedischen antimilitaristischen Netzwerks Ofog. Die Nachforschungen für diesen Artikel wurden in Zusammenarbeit durch Brian Martin und Majken Jul Sørensen durchgeführt. Ein längerer Artikel über Dilemma-Aktionen wird Anfang 2013 in Peace & Change erscheinen.

Anmerkungen

  • i) Moustafa edt Bayoumi, Midnight on the Mavi Marmara: The Attack on the Gaza Freedom Flotilla and How It Changed the Course of the Israel/Palestine Conflict (New York: OR Books, 2010).
  • ii) George Lakey, Powerful Peacemaking: A Strategy for a Living Revolution (Philadelphia, PA: New Society Publishers, 1987 [1973]). Afterwards, other authors who have written about dilemma actions/demonstrations as well. See for instance: Srdja Popovic, Andrej Milovojevic, and Slobodan Djinovic, Nonviolent Struggle: 50 Crucial Points, 2d ed. (Belgrade: Center for Applied Non Violent Action and Strategies, 2007), 70–71.; Philippe Duhamel, The Dilemma Demonstration: Using Nonviolent Civil Disobedience to Put the Government between a Rock and a Hard Place (Minneapolis, MN: Center for Victims of Torture, 2004).
  • iii) Paul McGeough, “Prayers, Tear Gas and Terror,” Sydney Morning Herald (June 4, 2010).
  • iv) Brian Martin, “Flotilla Tactics: How an Israeli Attack Backfired,” Truth-out.org (July 27, 2010).
  • v) Bayoumi, Midnight on the Mavi Marmara.
  • vi) BBC, “Gaza Ship Raid Excessive but Blockade Legal, Says UN,” BBC News (September 2, 2011); Geoffrey Palmer et al., Report of the Secretary-General’s Panel of Inquiry on the 31 May 2010 Flotilla Incident (United Nations, 2011).
  • vii) Jack Shenker and Conal Urquhart, “Activists’ Plan to Break Gaza Blockade with Aid Flotilla Is Sunk,” The Guardian (July 5, 2011).
  • viii) Ann Wright, “The Israelis Mount a Diplomatic Offensive to Stop the Gaza Flotilla,” Truth-out.org (April 16, 2011); Joshua Mitnick, “Israel’s New Friend: Why Greece Is Thwarting Gaza Flotilla,” Christian Science Monitor (July 5, 2011); Reuters, “UN Chief: Discourage New Gaza Flotilla,” ynetnews.com (May 27, 2011).
  • ix) Postmedia, “Activist Flotilla Stopped in Greece,” Canada.com (July 1, 2011).
  • x) Richard Falk, “Sabotaging Freedom Flotilla II,” Aljaze
  • xi) BBC, “Israel Troops Board Gaza Protest Boat Dignite-Al Karama,” BBC (July 19, 2011).
  • xii) Stellan Vinthagen, “En Ny Sorts Dilemma-Aktion [A New Kind of Dilemma Action],” in Ship to Gaza: Bakgrunden, Resan, Framtiden [Ship to Gaza: The Background, the Journey, the Future], ed. Mikael Löfgren (Stockholm: Leopard, 2010). p. 186.
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