Die Militarisierung der Jugend im bolivarischen Venezuela

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Rafael Uzcátegui

Präsident Hugo Chavez militarisierte die venezolanische Gesellschaft systematisch – von jung bis alt. Das ist vielleicht nicht allzu überraschend, wenn man sich erinnert, dass er 1998 als Oberstleutnant Chavez an die Macht kam, nachdem er 1992 einen Staatsstreich anführte. Es war das erste Mal seit Beginn der Demokratie im Jahre 1958, dass ein Mitglied der Streitkräfte zum ersten Mann des Landes gewählt wurde. Ab diesem Zeitpunkt fand eine progressive Militarisierung des Landes statt, insbesondere der jungen Leute.

Man muß früh anfangen

Im Jahre 1981 wurde dem Stundenplan der letzten beiden Jahre der Sekundarstufe (vor der Universität) 'vormilitärische Unterweisung' als Wahlfach hinzugefügt. Im Jahre 1999 wurde es sowohl für öffentliche als auch für private Schulen zum Pflichtfach. Theoretische Stunden über die Ursprünge des Staates und der Nation aus Sicht des Militärs wechseln sich ab mit praktischem militärischem Drill, Überlebenstraining und militärische Konfrontation, wie Beschreibung von durch die Armee benutzten Waffen. Manchmal kann auch das Auseinandernehmen und Zusammensetzen einer Pistole Teil des Unterrichts sein. Einerseits gibt man einen geschichtlichen Überblick über die Gründung Venezuelas als Land, das aufeinanderfolgende militärische Siege gegen verschiedene Weltmächte erzielte, d.h. Geschichte aus der Sicht des Militärs, andererseits unterrichtet man Menschenrechte.

Eine heute ausschließlich für das Militär benutzte alte Universität ist ein Teil des Systems staatlicher Universitäten: die National Experimental Polytechnic University of the Armed Forces (UNEFA). Die Zahl der eingeschriebenen Studenten ist seit 2004 ständig angestiegen: von 2.500 auf 230.000 Studenten. Die Studenten erhalten eine militarisierte Ausbildung mit unterschiedlichen Ritualen, die für eine Militärbasis angemessener wären, wie das Singen der Nationalhymne vor den Unterrichtsstunden. UNEFA ist stolz darauf, aktiv zum Training der nationalen bolivarischen Armee beizutragen, die ein ziviler Teil der durch die Regierung Chavez geschaffenen Streitkräfte ist. Nach offiziellen Zahlen besteht diese "zivile" Armee aus 13.000 Männern und Frauen aus dem ganzen Land. Die Verwaltung der Universität behauptet, dass die Studenten freiwillig der Armee beitreten, aber es ist nicht klar, ob sie bei Nichteintritt einen Abschluss machen können.

Um ihre Initiativen zu legitimieren, verwendet die bolivarische Nationalarmee den Artikel 326 des Grundgesetzes, welches von dem 'Prinzip der gemeinsamen Verantwortlichkeit der Bürger für die ganzheitliche Verteidigung der Nation' spricht. Das Regierungsprogramm 2013-2019 von Präsident Chavez versprach, 'die Organisation der Städte für die ganzheitliche Verteidigung des Landes auszuweiten'. Das bedeutet fortgesetzte, profunde Militarisierung der Gesellschaft.

Ein weiteres Beispiel für die Manipulation des Denkens der jungen Venezolaner durch das Militär ist der Gebrauch von Symbolen, die suggerieren, dass das durch die Streitkräfte vertretene vertikale und autoritäre Modell das effizienteste zur Organisation seines Lebens innerhalb der Gesellschaft ist. Trotz des Vertrauensvotums der Zivilisten für ihn gewöhnte sich Präsident Chavez daran, an offiziellen Zeremonien in Militäruniform teilzunehmen. Das rote Barett, das von den Anführern des Staatsstreiches und von Chavez selbst im Februar 1992 getragen wurden, stellte einen wichtigen Teil der bolivarischen Kleidung dar. Der Paseo de Los Proceres in Caracas – eine 1956 durch Diktator Marcos Perez Jimenez eingeweihte militärische Infrastruktur – bleibt der priviligierte Ort für militärische Aufmärsche sowie deren öffentliche Demonstration der Unterstützung der Regierung; so z. B. der Eröffnungsmarsch des 6. Globalen Sozialforums, das dort im Januar 2006 stattfand.

Nicht nur die Jugendlichen – Geschichte, Gewalt und Raum

Die Militarisierung der Jugendlichen in Venezuela ist Teil der allgemeinen Militarisierung des landes und muss deshalb in den Kontext gebracht werden. Der allgemeinen Tendenz lateinamerikanischer Länder folgend ist Venezuela ein Land, dessen Geschichte eine Abfolge von Kriegen und militärischen Helden ist. Von diesen Helden ist Simon Bolívar die herausragende Figur, da er für Kolumbien, Ecuador, Panama, Peru und Venezuela die Unabhängigkeit gewonnen hat. Vier Jahre nach seinem Tod im Jahre 1930 begann der venezolanische Kongress damit, die Hommage an ihn zu institutionalisieren. Man sprach von seiner 'kriegerischen' oder 'Krieger'-Männlichkeit und bezeichnete ihn als Vorbild für venezolanische Männer, mit Betonung auf Männlichsein, Mut und Patriotismus. Leute glauben fälschlicherweise, dass die gegenwärtige venezolanische Armee von der Befreiungsarmee Simon Bolívars herrührt, aber die Armee Bolívars bestand nur bis 1870. Die moderne venezolanische Armee wurde nicht vor den 1930er Jahren geschaffen – durch Gómez.
Im Jahre 1999 wurde eine neue Verfassung geschrieben. Zum ersten Mal wurde darin das Wahlrecht für Armeepersonal eingeschlossen. Sie gewährte diesem Personal auch andere politische Rechte, wie das Recht, in ein öffentliches Amt gewählt zu werden. Heute sind Soldaten Minister, Gouverneure und Bürgermeister. Bei den Gouverneurswahlen am 16. Dezember 2012, für die die United Socialists Party of Venezuela (PSUV; Vereingte Partei der Sozialisten Venezuelas) Kandidaten für 23 Staatsregierungen des Landes nominierte, waren 12 davon in der Armee. Davon wurden 7 gewählt.

In Venezuela herrscht bei der Konfliktlösung Gewalt – symbolische oder tatsächliche – vor. Sieg wird verstanden als Beseitigung oder Demütigung der anderen. Venezuela hat eine der höchsten Mordraten in der Region. Traditionell werden die Führungsstelen innerhalb der Polizei des Landes an Armeepersonal vergeben, und die Polizei benutzt Armeewaffen. Sicherheitsmaßnahmen, einschließlich des kürzlichen 'Zweihundertjährigen Sicherheitsplans' verlassen sich schwer auf die Bolivarian National Guard (GNB, die bolivarische Nationalgarde), die eine der vier Elemente der Bolivarian National Armed Forces (FANB; der bolivarischen Nationalstreitkräfte) darstellt. Die gravierende Gewalt in Venezuela wurde durch verschiedene Experten als ein 'Krieg niedriger Intensität' eingestuft. Sich selbst 'sicher' zu machen, hat einen bedeutenden Wandel in Gewohnheiten und Gebräuchen hervorgebracht. Die Leute bleiben nachts zuhause.

Ein Gesetz aus dem Jahre 2002 bestimmte fast 30 % des Landes Venezuela als 'Sicherheitszonen' (einschließlich Ufer, Seen, Inseln und befahrbare Flüsse, Gebiete um öffentliche Einrichtungen und jedes andere Gebiet, das "für die Sicherheit und Verteidigung des Landes notwendig erachtet wurde"). Jedem, der dieses Gesetz bricht, drohen harte Gefängnisstrafen. Es gibt Widerstand dagegen: im Jahre 2011 wurden 2.400 Leute vor Gericht gestellt, weil sie an einer Demonstration teilgenommen haben. Die meisten dieser Leute waren junge ländlichliche Führungskräfte, Gewerkschaftsmitglieder oder Studenten. Aber allgemeiner gesehen ist der Widerstand gegen die Militarisierung der venezolanischen Gesellschaft rar.

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Rafael Uzcátegui, basierend auf seinem Artikel in dem demnächst erscheinenden WRI-Buch mit dem vorläufigen Titel 'Sowing the Seeds: The Militarisation of Youth and How to Counter It' (Den Boden bereiten: die Militarisierung der Jugendlichen und Gegenmaßnahmen dazu) – vom Spanischen ins Englische

übersetzt von Paul Rankin und Inge Dreger

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