NATO und Atomwaffen – eine europaweite Herausforderung

Es ist an der Zeit, die Atomwaffen aus Europa hinauszuschaffen. Zu ihrem 60. Jubiläum muss die NATO die Botschaft erhalten, dass wir keine Kernwaffen brauchen – und die NATO auch nicht. Die für den Kalten Krieg geschaffenen Atomwaffen sind weit schlimmer als nur irrelevant im aktuellen Sicherheitskontext. Selbst innerhalb des Militärs werden solche Waffen zunehmend als Relikte aus dem letzten Jahrhundert wahrgenommen, als militärisch ungeeignet und als massive Belastung der Ressourcen, die das Militär für die konventionelle Kriegsführung beansprucht.

Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges waren die einzigen NATO-Mitglieder mit Atomwaffenbesitz die USA und Großbritannien (wobei die britischen Waffen ab 1958 mehr oder minder unter US-Kontrolle standen). Während theoretisch die Nuklearwaffen sowohl der USA als auch Großbritanniens Teil des NATO-Arsenals sind, beansprucht jeder Staat (Großbritannien in der Theorie, aber nicht in der Praxis) im Falle eines Einsatzes die Kommandoverantwortung. Frankreich hingegen ist zwar ebenfalls Mitglied, hat aber von der NATO unabhängige Atomwaffen.

Nun zeichnet sich ein Wandel ab. Zwar haben die USA, Großbritannien und Frankreich mit der Entwicklung neuer Atomwaffensysteme begonnen, doch wurden 2008 alle drei von der Mehrheit der Staaten ohne Atomwaffen innerhalb des Vertrags über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Non-Proliferation Treaty, NPT) für ihre anhaltende Weiterverbreitung verurteilt. In Europa drängen Deutschland und Norwegen zu einer umfassenden Überprüfung der Waffenkontrollpolitik, und innerhalb der europäischen Staaten, in denen US-Kernwaffen stationiert sind, wächst die Opposition auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene. Im Februar kündigte Obama an, der atomaren Abrüstung eine Vorrangstellung einzuräumen, um die alten Spannungen des Kalten Krieges abzubauen. Dabei schlug er vor, dass sowohl die USA als auch Russland den Abbau ihrer nuklearen Sprengköpfe auf 1.000 anstreben sollten. Diese Verhandlungen sollen in diesem Jahr im Rahmen des 1991 begonnenen Strategic Arms Reduction Treaty (START) geführt werden.

AktivistInnen können sich Erfolg versprechend in diese Entwicklungen einbringen. Mit dem 60. Jubiläum der NATO gibt es Anzeichen, das im April eine Überarbeitung des Strategiekonzepts und somit auch der Atomwaffenpolitik ansteht. Es gibt ebenfalls Hinweise darauf, dass sowohl die USA als auch die europäischen Stationierungsländer nach einer Gelegenheit Ausschau halten, die taktischen Kernwaffen ohne Gesichtsverlust aus Europa zu entfernen.

Die US-Atomwaffen sind im Rahmen des NATO-Strategiekonzepts in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert, was als „atomare Teilhabe“ bezeichnet wird. Vermutlich haben die USA in Europa insgesamt bis zu 350 taktische Atomwaffen. Ballistische Bomben des Typs B-61 befinden sich im Luftwaffenstützpunkt Kleine Brogel in Belgien, in Buchel in Deutschland und im niederländischen Volkel. In Italien sind zwischen 70 und 90 Waffen auf Aviano und Ghedi Torre verteilt; weitere 50 bis 90 sind im Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei stationiert. Vor ihrem Abzug im Juli 2008 gab es mehr als 110 Kernwaffen im britischen Lakenheath. Außer im Fall der Türkei können diese Bomben theoretisch entweder von Piloten und Luftwaffe der USA oder der Stationierungsländern eingesetzt werden.

Nach internationalem Gesetz ist die „nukleare Telhabe“ unrechtmäßig. Der NPT verbietet Nuklearwaffenstaaten (NWS) wie den USA, Atomwaffen sowie die direkte oder indirekte Kontrolle darüber an Nichtnuklearwaffenstaaten (NNWS) wie Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei zu übergeben und verbietet letzteren, solche Waffen entgegenzunehmen. Die USA vertreten den Standpunkt, dass ihr Verhalten den Vertrag nicht bricht, da die Übereinkunft schon vor Inkrafttreten des Non-Proliferation Treaty getroffen wurde. Allerdings erfährt diese Position sogar innerhalb der USA wenig Rückhalt: in einer aktuellen Umfrage war mehr als die Hälfte der US-Bürger der Meinung, dass die nukleare Teilhabe möglicherweise einen Bruch des Abkommens darstellt und beendet werden sollte.

In ähnlicher Weise herrscht nur in wenigen der Stationierungsländer große Begeisterung für die nukleare Teilhabe. Obwohl die deutsche Regierung offiziell erklärt hat, weiterhin US-Waffen „für absehbare Zeit“ zu beherbergen, könnte diese Politik laut der Nichtregierungsorganisation BASIC sehr bald in Frage gestellt werden, wenn die Tornados (die derzeit mit den B-61 bestückt sind) durch die Typhoon-Eurofighter ersetzt werden sollen. Berichten zufolge setzte die Regierung das Parlament 2004 darüber in Kenntnis, dass eine Zertifizierung der Typhoons für Nuklearwaffen nicht geplant sei.

Laut Hans M Kristensen wünschen sich über 70 Prozent der Deutschen und Italiener Atomwaffenfreiheit für ihre Staaten und für ganz Europa; über 63 Prozent in Belgien und in den Niederlanden sind gegen die nukleare Teilhabe. Für die Türkei liegt die Zahl nach den breiten Protesten gegen die Stationierung von US-Truppen im Irakkrieg bei über 88 Prozent. Jeder dieser Staaten könnte jederzeit aus der Vereinbarung aussteigen, wie es Griechenland, Südkorea und Japan bereits getan haben (vgl. http://www.basicint.org/gtz/gtz11.htm).

In der britischen Atomwaffenfabrik in Aldermaston bereitet ein großes Bauprogramm Großbritannien darauf vor, den Trident-Nachfolger zu bauen. Das britische System – von den Raketen selbst (die von den USA geleast sind) über die amerikanischen Gesellschaften Lockheed Martin und Jacobs Engineering, die Aldermaston im Auftrag der britischen Regierung betreiben, bis hinab zur Ebene der Zielerfassung – ist vollständig unter US-Kontrolle. Seit dem „Abkommen über Zusammenarbeit bei der Nutzung der Atomenergie zu Zwecken der gegenseitigen Verteidigung“ (kurz Mutual Defence Agreement) von 1958 hat Aldermaston mit Partneranlagen in den USA nukleare Sprengköpfe entwickelt. Jüngste Berichte bestätigen, dass Aldermaston jetzt das finanzschwache amerikanische Programm zum Bau des Reliable Replacement Warhead unterstützt unter dem Vorwand, den so genannten britischen Hochsicherheitssprengkopf zu entwickeln.
Obwohl Sarkozy 2008 die Reduzierung der taktischen Atomwaffen im Luftwaffenbereich ankündigte, werden in Frankreich ab 2010 neue M-51-Langstreckenraketen einsatzfähig sein, die mit neuen Sprengköpfen ausgestattet sind. Es gibt ebenfalls Hinweise auf einen möglichen Wandel der aktuellen französischen Nuklearstrategie, da Sarkozy in diesem Bereich eine gegenseitige Annäherung mit Großbritannien angedeutet hat. Hintergrund ist die Idee, beide Atomwaffenarsenale für die „Verteidigung“ Europas zu koordinieren.

Zeit zu handeln

Selbst die NATO gesteht ein, dass sie ihre Atomwaffen nicht einzusetzen beabsichtigen. Ihr aktuelles Strategiepapier hält fest: „Die Nuklearwaffen spielen weiterhin eine zentrale Rolle bei der Kriegsprävention, aber ihre Rolle ist nun in grundlegender Weise politischer geworden, und sie werden nicht mehr als spezifische Drohung eingesetzt.“

Das Argument einer kriegsverhindernden Funktion von Atomwaffen ist schon seit Jahren widerlegt. Während Großbritannien und die USA vielleicht eine neue „politische“ Generation von Trident-Langstreckenraketen anstreben, gibt es keine politische Notwendigkeit für taktische Atomwaffen. Sogar unter Bush erwog das Pentagon die Möglichkeit, die Stationierungen in Europa zu reduzieren oder ganz zu beenden. Laut der jüngsten Analyse von BASIC „wird die Regierung unter Obama die Meinung (bezüglich eines Abzugs) innerhalb des Bündnisses auch über die Stationierungsländer hinaus sondieren, bevor sie bedeutende Veränderungen vornimmt.“ Durch politischen Druck könnte der Abzug Wirklichkeit werden, und dies müsste geschehen, bevor die USA Ende 2009 oder Anfang 2010 die versprochene neue Nuclear Posture Review veröffentlichen. Sowohl die amerikanische als auch die europäischen Regierungen müssen die Botschaft erhalten.
Es ist ebenso an der Zeit, die NATO davon abzuhalten, ihre Haltung gegenüber atomaren Erstschlägen zu überdenken. Während der „Ersteinsatz“ seit der Nuclear Posture Review von 2002 zur US-Doktrin gehört, lehnt die NATO diesen bisher ab, doch wächst seit Anfang 2008 der Druck zur Neuausrichtung, auch von Seiten ehemaliger Militärchefs. Wir müssen sicherstellen, dass die NATO die US-Doktrin zurückweist und ihre derzeitige Position beibehält.

In den 1980er Jahren gelang es einer breiten Anti-Atom-Bewegung in den NATO-Mitgliedsstaaten, sowohl die amerikanischen Pershing-Raketen als auch die Cruise Missiles loszuwerden. Das Jahr 2009 bietet die Chance, die Überreste des Kalten Krieges loszuwerden und die amerikanischen Atomwaffen aus Europa hinauszuschaffen – als ersten Schritt im Abbau des NATO-Atomwaffenarsenals. Der nächste Schritt wird es sein, die Entwicklung einer neuen Generation von Trident-Nuklearwaffen in Großbritannien und den Einsatz des neuen französischen Waffensystems (und – falls Sarkozys Ankündigungen Glauben geschenkt werden muss – ihre Vereinigung zu einem europäischen Atomwaffenarsenal) zu stoppen. Wir haben die Chance, Europa von den Massenvernichtungswaffen zu befreien – nutzen wir sie!

Sian Jones

Sian Jones ist eine Aktivistin der Aldermaston Women’s Peace Camp(aign)
http://www.aldermaston.net

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