Kriegsdienstverweigerung in Russland: Ein erster Eindruck nach drei Jahren Praxis
Das russische Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung trat am 1. January 2004 in Kraft, und führte ein "Recht" auf Kriegsdienstverweigerung ein, dass nicht den internationalen Standards entspricht. Dazu gehört ein ziviler Ersatzdienst, der 1.75 mal so lang ist wie der Militärdienst [1].
In der Praxis - wenn man die lange Dienstzeit mal beiseite lässt - entstehen die meisten Probleme durch das bürokratische Antragsverfahren. Ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung darf nicht später als sechs Monate vor der Einberufung gestellt werden.
Doch viele potentielle Kriegsdienstverweigerer sind sich dieser Antragfrist nicht bewusst, und die Musterungsbehörden geben oft falsche oder unvollständige Informationen. Nach Informationen von Sergei Krivenko, Geschäftsführer der russlandweiten NGO-Koalition für einen demokratischen Zivildienst, gibt es Fälle direkter Missinformation durch die Musterundbehörden, die wissentlich falsche oder unvollständige Informationen herausgeben, so z.B. dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nur für religiöse Menschen gilt. Doch die meisten Musterungsbehörden geben überhaupt keine Informationen zum Recht auf KDV. Derzeit gibt es zahlreiche Fälle, in denen der KDV-Antrag aufgrund des verpassten Antragsschlusses abgelehnt wurde, und im Anschluss daran wurden KDVer zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen. Dieser Teil des Gesetzes wird derzeit beim Verfassungsgericht überprüft.
Es gibt auch Fälle, wo die Musterungsbehörden Anträge nicht an die Wehrpflichtkommission weitergeleitet haben - und nur diese Kommission ist ermächtigt, über KDV-Anträge zu entscheiden.
Insgesamt haben seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Kriegsdienstverweigerung etwa 3.500 Personen einen Antrag auf Kriegsdienstverwei- gerung gestellt. Derzeit gibt es keine Statistik, wie viele Anträge bewilligt oder abgelehnt wurden. Doch haben ca. 100 Personen russische Menschenrechtsorganisationen kontaktiert, um Hilfe bei Problemen mit der Bürokratie zu erhalten. In den meisten Fällen konnte ihnen zu ihrem Recht auf KDV verholfen werden [2].
Kriegsdienstverweigerung in Russland muss vor dem Hintergrund der disaströsen Situation im Militär und weit ver- breiteter Wehrdienstvermeidung betrachtet werden. Nach einer Umfrage des Levada Center ist die Bereitschaft zur Ableistung von Militärdienst in den russischen Streitkräften zu Anfang des Jahres 2006 auf weniger als 40% gesunken [3]. Doch für die meisten jungen Menschen ist Wehrpflichtvermeidung - durch den "Kauf" medizinisch begründeter Wehrdienstbefreiungen oder Rückstellungen vom Militärdienst - die Methode der Wahl, und nicht die rechtlich bestehende Form der Kriegsdienstverweigerung. Das bedeutet, dass die KDV-Zahlen nicht die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den russischen Streitkräften widerspiegeln. Andreas Speck
Anmerkungen:
[1] für eine detailliertere Kritik des russischen KDV-Gesetzes, siehe War Resisters' International: The Russian Federation: Human Rights and the Armed Forces; report for the United Nations Human Rights Committee, September 2003, /news/2003/un0309ru.htm [2] Informationen von Sergey Krivenko, email an die WRI, 19. Oktober 2006 [3] A-Infos, 7. März 2006
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