Kollektive Identitäten: Falle oder Mittel zum Empowerment?

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Andreas Speck

Kollektive Identitäten - "wir" als 'queers', als was für eine Gruppe auch immer - werden häufig als empowerernd angesehen, indem sie ein Gefühl der Zugehörigkeit bieten. Auf der anderen Seite produzieren kollektive Identitäten durch ihre Existenz neue Grenzen des 'drinnen' und 'draussen', und neue Normen des Verhaltens, die die Freiheit der Menschen, zu sein und zu tun, einengen. Nicht nur können Identitäten disempowerend sein, sie können auch das Leben von Menschen bedrohen, wie nationalistische und homophobe Angriffe zeigen.

Vielleicht behaupte ich hier nur das Offensichtliche. I betrachte keine der üblicherweise diskutierten kollektiven Identitäten (seien sie ethnisch, gender oder national) als "natürlich"; sie alle sind soziale Konstruktionen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht existieren, oder dass sie keinen Einfluss auf unsere Leben haben, doch es bedeutet, dass auch wir eine aktive Rolle spielen bei unseren kollektiven Identitäten, in ihrer Stabilisierung oder Dekonstruktion.

Als schwuler Mann werde ich im wesentlichen aus dieser Perspektive schreiben. Dennoch bin ich überzeugt, dass ähnliche Prozesse auch bei der Konstruktion anderer kollektiver Identitäten am Werk sind, und dass daher meine Gedanken nicht auf Fragen schwuler Identitäten begrenzt sind.

Die Konstruktion des »Anderen«

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass gerade westeuropäische/nordamerikanische, heterosexuelle, weiße Männer aus der Mittelklasse sich ihrer Identität üblicherweise nicht bewusst sind: sie repräsentieren die "Norm", an der alles und alle gemessen werden. Kollektive Identitäten sind häufig Definitionen des "Anderen", des von der Norm abweichenden und damit "Minderwertigen". Diese Zuschreibungen des "Anderen" sind aber gleichzeitig notwendig für die Definition der "Norm".

Eine dieser "Normalitätskonstruktionen" ist Heterosexualität. Hier wird "etwas als Normalität ausgewiesen, was eigentlich eine Setzung, eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die zum Machterhalt und zur Herrschaftssicherung dient." Möglich wurde diese Normalitätskonstruktion gar nicht so sehr durch die eigenständige Definition der Heterosexualität, sondern durch die Erfindung des "Anderen", des "Nicht-Heterosexuellen": des Homosexuellen. Die Abgrenzung, der Ausschluß von der Norm, führt dabei zu einer Identitätskonstruktion, der Beschreibung einer kollektiven Identität der Homosexuellen. In diesem Prozess besteht kein Bewusstsein darüber, dass die Normalität, obwohl sie die sozial dominante Form ist, in einer Art Abhängigkeit zu dem steht, was ausgeschlossen ist - hetero braucht homo.

Diejenigen, die nicht dazugehören, werden sich ihrer kollektiven Identität gerade durch diesen Ausschluss schmerzhaft bewusst. Ein kollektives Gefühl des "Nicht-Dazugehörens", des "Anders-Seins" ist spürbar. "Coming-Out" als Schwuler oder Lesbe kann als ein erster Schritt im Prozess des Empowerment gesehen werden, und es gibt wenig Zweifel, dass dies wesentlich ist für die eigene persönliche Entwicklung und das Selbstbewusstsein. Doch gleichzeitig wäre diese homosexuelle (oder schwule/lesbische) Identität nicht möglich ohne die (Hetero-) Normalität.

Neudefinition der Identität: erster Schritt zum Empowerment

Eine Voraussetzung der schwul/lesbischen Emanzipationsbewegung war es, die als "minderwertig" definierte und von außen zugeschriebene kollektive Identität positiv zu wenden. "Gay Pride", "Gay is good" waren Slogans, die der eigenen Identität einen positiven Wert gaben. "Das Herausbilden eines politischen Identitätsbewußtseins ... ist ein Schritt der Politisierung und des Widerstands unterdrückter Gruppen. ... Identitätsbewußtsein ist Produkt und Mittel einer Befreiungspolitik, Identität ein (vorübergehender) Kampfbegriff: Entgegnung auf die Diskriminierung und die Sicht der Norm. Identität in diesem Sinne umfaßt das Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte der Ausbeutung und der Unterdrückung...", so Susanne Kappeler, und das bedeutet Empowerment sowohl auf der Gruppen- als auch auf der persönlichen Ebene.

Viele dieser Bewegungen hatten am Anfang damit zu kämpfen, verinnerlichte Zuschreibungen von außen zu überwinden. Genauso wie viele Schwarze in der USA (und nicht nur dort) ein verinnerlichtes Selbstbild ihrer eigenen angeblichen "Minderwertigkeit" gegenüber Weißen zunächst im Prozeß ihrer Organisierung gegen Rassismus überwinden und umkehren mußten, genauso galt für viele Schwule und Lesben häufig die Übernahme negativer Selbstdefinitionen, die zu einer Politik führte, in der im wesentlichen behauptet, doch genauso zu sein wie "Heteros". Die nach "Stonewall" erstarkende Schwulen- und Lesbenbewegung war vielfach auch eine "Coming Out"-Bewegung, die ihr eigenes Coming Out "politisch abarbeitete".

Für die Frauenbewegung dien(t)en Frauengruppen zunächst einmal dazu, die gemeinsame Erfahrung der Unterdrückung aufzuzeigen und sich gegenseitig "als Frauen" zu empowern, um daraus dann politische Aktion zu entwickeln.

Für beide Bewegungen (oder alle drei, wenn mensch Schwulen- und Lesbenbewegung als zwei verschiedene Bewegungen betrachtet, was durchaus Sinn macht) läßt sich jedoch eine Tendenz weg von Identität als gemeinsame Erfahrung der Unterdrückung hin zu einer "Identitätspolitik" feststellen, bei der die so neu gefundenen eigenen schwulen, lesbischen oder Frauenidentitäten festgeschrieben und als Basis für Politik definiert werden. "Mit der Konsolidierung der Schwulen/Lesbenbewegung verlor der frontale Angriff auf gerade diese Vorstellung von Grenzen zwischen sexuellen Identitäten rapide in Popularität. Gay-AktivistInnen begannen zu argumentieren, daß Gays eine sexuelle Minderheit seien, denen die gleichen Rechte zustehen würden, wie anderen BürgerInnen. Anstatt das Sytem einzureißen, war das neue Ziel eine Veränderung des Systems, um Homosexuellen eine Beteiligung auf gleicher Grundlage zu ermöglichen."

Damit verliert Identität dann den Charakter eines (vorübergehenden) Kampfbegriffes und wird selbst wieder normbildend - zumindest für die Gruppe, der diese Identität übergestülpt werden soll.

Identitäten der Dominanz: unsichtbare Norm

"Männliche Identität", "heterosexuelle Identität" oder auch "weiße Identität" existieren dagegen als Norm, obwohl dies nicht bewusst ist. Es macht keinen Sinn, sie als "Kampfbegriff" oder "Produkt einer Befreiungspolitik" im oben genannten Sinne von Susanne Kappeler zu stärken - im Gegenteil: durch ihren Normierungscharakter sind sie Mittel der Unterdrückung und Zurichtung, ohne dass gleichzeitig ein Bewußtsein der Identität notwendig wäre.

Rüdiger Lautmann behauptet für Heterosexualität, daß sie "nicht für eine Identität taugt". Sie ist lediglich "Ausschlußkategorie", "Restkategorie" ("alles, nur nicht so" - nicht homosexuell). "Vielleicht möchte Heterosexualität schlicht mit dem Menschsein gleichgesetzt werden, und auf diesem nicht gerade bescheidenen Anspruch beruht ihr universaler Erfolg." Hierin spiegeln sich die strukturellen gesellschaftlichen Machtverhältnisse wieder, die Voraussetzung sind für die Macht zur Definition, die Durchsetzung der weißen, männlichen, heterosexuellen Norm.

Diese Form der "Identität" gilt es daher zunehmend in Frage zu stellen. Einerseits als normsetzende Identität der scheinbaren Natürlichkeit zu entreißen, andererseits aufzuweichen, zu verunsichern, zum Einsturz zu bringen.

Doch kann es andererseits nicht darum gehen, diese Identitäten schlicht zu negieren. Als "Weißer" - und auch als "Deutscher" - habe ich den Blick der Norm. Ohne diesen zu reflektieren laufe ich ständig Gefahr, andere entsprechend der Norm zu bewerten, sie entsprechend ihrer Übereinstimmung mit oder Abweichung von der Norm in Kategorien einzuteilen, ihnen vielleicht auch mit einem "Normierungsdruck" zu begegnen, die mit der Zugehörigkeit zur Norm verbundene Macht auch auszuspielen.

"Männlich", "heterosexuell" und "weiß" sind Attribute der Macht-über, nicht der Befreiung. Gleichzeitig sind sie durch ihren normierenden Charakter auch für diejenigen, auf die diese Norm zutrifft, begrenzend, raubt die Norm den sie verkörpernden doch eine potentielle Vielfalt anderer Verhaltensmöglichkeiten; macht sie sozusagen zu SklavInnen der Norm. Wer einmal versucht hat, den Bruch mit Männlichkeit wirklich zu vollziehen, der kann vielleicht nachvollziehen, wie hoch der Normierungsdruck ist - selbst für "Nicht-Heterosexuelle". Das fängt schon bei so banalen Fragen wie Kleidung an, zeigt sich doch gerade an diesen Äußerlichkeiten der Druck gesellschaftlicher Normen am deutlichsten (schonmal ein Cross-Dressing in der Öffentlichkeit versucht?).

Auch wenn "Empowerment für (heterosexuelle) Männer" in einer patriarchalen Gesellschaft merkwürdig klingen mag, so sehe ich es als entscheidend an, um den Prozess der Re-Produktion unterdrückerischer Männlichkeiten zu durchbrechen. Doch in diesem Prozess ist es wichtig, die Macht-über der Männer anzuerkennen (über Frauen, Schwule, Schwarze), um das Streben nach Macht-über zu überwinden und es durch Macht zusammen mit anderen Menschen zu ersetzen, seien das nun Männer, Frauen oder was auch immer.

Marginalisierte Identitäten

Die kollektiven Identitäten marginalisierter, unterdrückter Gruppen sind ebenfalls ambivalent. Aus meiner Sicht wird von BefürworterInnen einer Identitätspolitik der Aspekt des Empowerment, der aus dem kollektiven Bewußtsein der Unterdrückung und der positiven Wendung der Identität entspringt, überbewertet. Auch wenn das ein wichtiger Aspekt ist, so ist kollektiven Identitäten das Ausschlußprinzip inhärent. Auch sie konstruieren immer Normen und sind damit begrenzend. Judith Butler warnt davor, dass im Kampf gegen die Gewalt des unsichtbar gemacht werdens wir sicherstellen müssen, dass wir nicht neue Formen der Gewalt produzieren - in diesem Zusammenhang Identitätsnormen.

Susanne Luhmann zeigt dies am Beispiel der "frauenidentifizierten lesbischen Identität", wie sie in Anlehnung an Adrienne Rich weit rezipiert wurde. Hier wird ein neues "regulatives Ideal" konstruiert, das gleichzeitig neue Marginalisierungen hervorruft und kontrolliert, welche Formen von Geschlecht und Sexualität legitim und welche illegitim sind. Im Endeffekt kann das zu Disempowerment führen, wenn ich feststelle, dass ich den Normen des Kollektivs, mit dem ich mich identifiziere, nicht entspreche (entsprechend will).

Susanne Kappeler betont: "Sinn und Zweck des politischen Identitätsbewußtseins ist nicht das Feiern einer gefundenen Identität, sondern die Überwindung der rassistischen, sexistischen, heterosexistischen Identität und die Abschaffung aller Kriterien der Diskriminierung und Ausbeutung ... Identitätspolitik, d.h. Interessenpolitik aufgrund sog. Identitäten, ist die Entpolitisierung des Selbstbefreiungskampfes unterdrückter Gruppen. Mit der Identitätspolitik - Frauenpolitik statt feministischer Politik, Lesben- und Schwulenpolitik statt Anti-Heterosexismuspolitik, weibliche Kultur statt Patriarchatskritik - mit der Identitäts- und der ganzen 'Differenzpolitik' also, die heute ihren Einzug hält, ist der politische Sinn der kollektiven Bildung eines 'Identitätsbewußtseins' unterdrückter Gruppen verloren gegangen. 'Identität' ist zum psychologischen und kulturellen Begriff verkommen, dessen befreiungspolitische Bedeutung verloren gegangen ist."

Queering - das Identitäts-Dilemma?

Darum geht es "Queer-Politik". Mit der Abschwächung von Unterdrückung als Ergebnis von Empowerment auf allen drei Ebenen - von der persönlichen zur gesellschaftlichen - ist das "queering" von Identitäten eine Option, um die Falle der Identitätspolitik zu vermeiden. Auch wenn gleichzeitig das Beharren auf dem "Bewusstsein der Identität als unterdrückter Gruppe" noch immer eine wichtige politische Taktik sein mag.

Auch wenn es heute leichter sein mag, sich als schwul zu identifizieren - zumindest in den Städten westlicher Länder, und noch immer weit davon entfernt, einfach eine "Wahl des Lebensstils" zu sein - so muss ich mich doch noch immer für eine der kollektiven Identitäten "schwul" oder "hetero" entscheiden? Doch sind das nicht neue Normen und daher Begrenzungen meiner persönlichen Möglichkeiten? Wäre demnach eine Zuordnung nicht auch eine Akzeptierung der Norm, eine Form der freiwilligen Unterordnung unter die Norm?

Es gibt viele praktische Schwierigkeiten, sich der Zuordnung zu verweigern. Eine ist, dass die gesellschaftlichen Normen grosse Macht ausüben und Wirklichkeit formen, was auch mich beeinflusst. Ich bin als Mann aufgewachsen und habe auch Anteil an den Vorteilen, die das Patriarchat Männern bietet, auch wenn ich schwul bin. Die andere Schwierigkeit ist, dass die Gesellschaft mir oft eine Identität aufdrückt, egal ob ich das mag oder nicht.

Doch muß ich mich deswegen an der Fortschreibung der Binarität "homo-hetero", an ihrer Zementierung beteiligen, um mich den Normen der "gay community" unterzuordnen? Wo bleibt da die "Befreiung"?

Für mich ist Empowerment ein Mittel, um die Notwendigkeit, sich kollektiven Identitäten unterzuordnen, loszuwerden, schwul zu sein als nur einen von vielen Aspekten meiner individuellen Identität zu sehen, nicht wichtiger als andere. Damit stellt sich die Frage, wie wir uns von den gesellschaftlichen Konstruktionen der Norm befreien können? Dabei liegt eine Gefahr darin, die Wirkmächtigkeit der real-existierenden kollektiven Identitäten schlicht zu leugnen, sich der eigenen Verstrickung in diese Identitäten nicht bewußt zu sein. Wenn wir er schaffen, uns der Beteiligung an der Konstruktion und Stabilisierung der Normen zu verweigern, dann entstehen - vielleicht - Potentiale für Befreiung.

Andreas Speck ist im Vorstand der WIR und arbeitet derzeit als Koordinator des WIR-Projektes zu Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment.
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