Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für massenhaften Zivilen Ungehorsam

Jochen Stay

Jochen Stay war in den 80er Jahren in Kampagnen Zivilen Ungehorsams gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik aktiv, und später in den 90er Jahren und bis jetzt in der Kampagne gegen Atommülltransporte nach Gorleben. Er reflektiert hier über seine Erfahrungen mit massenhaftem Zivilen Ungehorsam. Es ist klar, dass auch in der jetzigen weltweiten politischen Situation mutiges Einmischen dringend geboten ist, doch er fragt: Sind gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams mit der Beteiligung Tausender auch wieder eine konkrete Perspektive für die Friedensbewegung heute?

Klar ist, und das haben die vielen gescheiterten Versuche gezeigt, nicht jedes Thema, nicht jede politische Situation und nicht jeder Aktionsansatz eignet sich dazu, Tausende zum Zivilen Ungehorsam zu bewegen. Es müssen also eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen stimmen, damit es funktioniert. Ich zähle zehn Punkte auf, die sich sowohl in Mutlangen wie bei X-tausendmal quer finden lassen, ohne zu behaupten, damit so etwas wie ein Erfolgsrezept bieten zu können:

  1. Es geht um ein Thema, dass von vielen Menschen als konkrete Bedrohung empfunden wird. Die persönliche Betroffenheit ist ein wesentlicher Faktor.
  2. Es geht um ein Thema, bei dem viele Menschen den Eindruck haben, dass sich die Parteipolitik mächtigen Interessen unterordnet und nicht den Willen der Bevölkerung umsetzt.
  3. Es ist gelungen, aus dem großen allgemeinen und hochkomplexen Konfliktthema einen besonders brisanten, besonders anschaulichen aber auch hochsymbolischen Teil herauszunehmen und um diesen Teilbereich einen Konflikt aufzubauen, der für das ganze Thema steht, pars pro toto, ein Teil steht für das Ganze.
  4. Es ist gelungen, den Konflikt an einem konkreten Ort zuzuspitzen -- Mutlangen, Gorleben -- so dass der Ort selbst große symbolische und damit letztlich auch identitätsstiftende Bedeutung bekommt.
  5. Die jeweilige Kampagne bekommt Energie durch eine gesellschaftliche Vision, die weit über das politische Teilziel hinausgeht und die sich im Umgang miteinander, im Innenleben der Kampagne widerspiegelt. Ich nenne hier nur die basisdemokratischen Ansätze, Konsensmodell, Bezugsgruppen und SprecherInnenrat.
  6. Die jeweilige Kampagne Zivilen Ungehorsams wird getragen von einem Kreis von AktivistInnen, die sich mit ihrer ganzen Kraft und quasi Full-Time über Jahre für die Umsetzung ihrer Vision einsetzen.
  7. Es wird eine konkrete Form Zivilen Ungehorsams gefunden, die von ihren Konsequenzen nicht zu viel aber auch nicht zu wenig Folgen hat. Die begrenzte Regelverletzung und die Bereitschaft zum Tragen der Folgen öffentlicher Aufmerksamkeit führen dazu, dass viele bereit sind, diesen Schritt zum Zivilen Ungehorsam zu wagen, weil die juristischen und körperlichen Folgen überschaubar sind.
  8. Die Aktionen entwickeln sich zu einer Mischung aus effektiver Behinderung der Maschinerie und Ritual. Rituale sind für mich nichts negatives, so lange sie mit Leben gefüllt sind.
  9. Die Mobilisierung zu den Aktionen ist nicht unverbindlich sondern wird über Selbstverpflichtungs-Erklärungen letztlich sehr persönlich und verbindlich geführt
  10. Die jeweiligen AktivistInnen haben die Möglichkeit, sich gründlich vorzubereiten. Und es wird viel Aufwand betrieben, damit die organisatorischen Rahmenbedingungen so gut sind, dass der oder die einzelne BlockiererIn sich wirklich aufs Blockieren konzentrieren kann.

Soweit einige Gemeinsamkeiten. Es gibt aber auch Unterschiede, Faktoren, die sich seither gewandelt haben. Auch davon will ich einige benennen:

  • Der Umgang mit Zivilem Ungehorsam ist nach meiner Wahrnehmung funktionaler geworden. Wurde in Mutlangen noch sehr genau und gründlich argumentiert, warum in der Frage des atomaren Wettrüstens der Schritt zur Gehorsamsverweigerung legitim ist, so wird Ziviler Ungehorsam von vielen inzwischen als selbstverständliche Aktionsform empfunden, die dazu geeignet ist, öffentliche Aufmerksamkeit in höherem Maße auf sich zu ziehen als eine normale Demo. Ziviler Ungehorsam ist aber auch deshalb so attraktiv, weil damit der oder die Einzelne die Möglichkeit bekommt, mit dem eigenen Körper Sand im Getriebe zu sein.
  • "X-tausendmal quer" arbeitet weniger mit bereits bestehenden Gruppen, die gemeinsam anreisen. Zwar gibt es sie teilweise noch immer und sie sind wichtiger Kern der Aktion. Aber die meisten BlockiererInnen reisen als einzelne Person oder zu Wenigen an und bilden erst vor Ort Bezugsgruppen. Deshalb braucht es direkt vor jeder Aktion ein bis zwei Tage Vorbereitung, damit aus einem zusammengewürfeltem Haufen eine aktionsfähige Gemeinschaft entsteht. Aber selbst die Großgruppe ist dann nur der erweiterte Kern. Die meisten Aktiven kommen gänzlich unvorbereitet und spontan direkt zur Aktion dazu und diese muss entsprechend so organisiert sein, dass dies möglich ist.
  • Die Aktionen sind ein Stück weit "militärischer" geworden. Da die Polizei mit großflächigen Versammlung verboten und rekordverdächtigen Großeinsätzen versucht, jegliche Aktionen schon im Voraus zu verhindern, ist inzwischen der Weg zum Aktionsort oft der schwierigste Teil der Sache. Wer einmal bei einer Aktion von "X-tausendmal quer" miterlebt hat, wie Tausende quasi in Marschkolonnen über große Felder und Wiesen auf die Transportstrecke und die sie sichernden Polizeikräfte zugehen, fühlt sich an Bilder aus den napoleonischen Kriegen erinnert. Der Unterschied wird erst deutlich, wenn wir uns kurz vor der Polizeikette auffächern und auf sehr ruhige aber entschlossene Weise durchkommen.
  • Was sich auch geändert hat, ist die Wahrnehmung von Erfolg. Zwar waren auch in den 80ern die Ziele sehr hochgesteckt, aber den einzelnen BlockiererInnen war klar, dass sie mit ihrer Aktion nicht gleich die Abrüstung erreichen können Heute sind viele anspruchsvoller und erhoffen sich kurzfristigeren Erfolg.

Dies ist ein Auszug aus einer längeren Präsentation von Jochen Stay auf der Perspektivkonferenz "Mit neuer Energie für den Frieden", 7. Dezember 2002, in Schwäbisch Gmünd Der Vortrag ist in der Zeitschrift "gewaltfreie aktion", Nr. 138/139, 1./2. Quartal 2004 erschienen.

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